Durchschnittsnutzer – was können sie wirklich? – Newsletter 12/2016

Wenn man im Usability-Labor sitzt und sieht, wie sich Probanden mit den eigenen Werken abmühen, wird man bescheiden. Wer noch nie eine andere Person dabei beobachtet hat, wie sie mit einer Website umgeht, sollte das unbedingt bald nachholen. Mein Vorschlag für den Neujahrsvorsatz.

Seit vielen Jahren mache ich nun Konzepte, und noch immer bringt mir jede Runde von Usability-Tests mindestens eine Überraschung. Nicht immer sind es gravierende Probleme, aber immer ist es etwas, womit keiner im Team gerechnet hätte. Gleich, ob man etwas Etabliertes testet wie eine Website, etwas inzwischen auch Wohlbekanntes wie eine App oder etwas Neuartiges wie die Sprachsteuerung für ein Gerät – echte Nutzer scheitern an Stellen, die man nicht bedacht hatte..

Profi-Nutzer haben genauso Probleme

Ich hatte vor ein paar Wochen acht Teilnehmer bei einem Usability-Test, die alle in leitender Position in größeren bis großen Unternehmen tätig sind. Mehrere studierte BWLer, zwei Informatiker, eine Schulleiterin. Alle zwischen Anfang dreißig und Ende fünfzig. Alle arbeiten jeden Tag im Beruf mit Computern. Und doch gab es einige Situationen, bei denen sie bei der getesteten Anwendung nicht weiterkamen. Sie konnten nach einiger Zeit ihre Aufgabe dann zwar auf anderem Weg abschließen, aber mich persönlich hat es gewundert, dass diese Profi-Nutzer so viele Probleme hatten.

Und auch beim Test einer neuen Sprachsteuerung für ein Gerät, den ich letzte Woche durchgeführt habe, war ich überrascht: Es spielte kaum eine Rolle, ob die Probanden schon mehrere Jahre Erfahrung gesammelt hatten mit Sprachsteuerung (etwa bei ihrem Smartphone). Sie hatten genauso Probleme, wie diejenigen, die Sprachsteuerung noch nie genutzt hatten. Es waren zwar andere Probleme, aber leichter taten sie sich nicht – sie hatten durch ihre Erfahrungen anderen Erwartungen.

Daher kommt einer der wichtigsten Grundsätze der Konzeption: Gehe niemals von dir aus. Um zu wissen, was deine Zielgruppe kann, versteht und erwartet, musst du sie beobachten.

Durchschnitts-Nutzer werden überschätzt

Im Konzeptions-Team kommen wir immer wieder einmal an Stellen, an denen wir nicht sicher sind, ob Nutzer einen bestimmten Ansatz verstehen. Je breiter unsere Zielgruppe ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass der Großteil es versteht. Für uns, die wir in diesem Bereich arbeiten, ist vieles selbstverständlich. Wir sprechen darüber auch jeden Tag. Wir nutzen Anwendungen nicht nur, wir hinterfragen sie, analysieren die dahinter liegenden Konzepte und diskutieren, ob sie gut sind.

Doch selbst Menschen, die schlauer sind als wir und beruflich erfolgreicher, haben mitunter mehr Probleme, als wir uns vorstellen. Sie nehmen das, was wir produzieren – Websites, Apps, Geräte – einfach als Werkzeug. Sie hinterfragen diese nicht, interessieren sich nicht weiter dafür, sondern versuchen damit so schnell wie möglich ihre Aufgabe zu erreichen, ohne lang darüber nachdenken zu müssen.

Selbst den durchschnittlichen, gut ausgebildeten Nutzer unter vierzig, der schlau ist und einen guten Job hat, überschätzen wir. Und die meisten Sachen, die wir konzipieren, sollen auch für weniger bevorzugte Nutzer gut funktionieren.

OECD-Studie zeigt: Wir leben in einer Blase

cover-skills-matterJakob Nielsen hat über eine gerade veröffentlichte Studie berichtet, welche die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Organisation for Economic Co-operation and Development) in den letzten Jahren durchgeführt hat. Sie ist extrem breit angelegt und sie dokumentiert wissenschaftlich fundiert, wie gut Menschen mit Computern umgehen können. Und es wurden auch einige andere Fähigkeiten getestet wie Textverständnis, Rechnen und Problemlösung. Sozusagen eine Pisa-Studie für Erwachsene.

215.942 Probanden in 33 Ländern haben teilgenommen. Sie stammten aus den OECD-Ländern, also den westlichen Industrienationen wie USA, Europa, Australien und Japan. Alle Probanden waren zwischen 16 und 65 Jahren alt.

Sie sollten unter anderem einige Aufgaben am Computer durchführen. Dazu gehörte zum Beispiel, alle E-Mails zu finden, die “John Smith” geschrieben hat – was sich in einem Schritt lösen lässt, indem man den Namen an der richtigen Stelle im Mailprogramm eingibt.

Eine komplexe Aufgabe war z.B., einen Besprechungsraum zu reservieren, basierend auf den Informationen aus mehreren E-Mails. Hierzu mussten die Probanden die verschiedenen E-Mails heraussuchen, herausfinden, welche genauen Anforderungen an Ausstattung und Termine es gab und dann dementsprechend den Raum buchen.

Bevor Sie weiterlesen: Was glauben Sie, wie viele durchschnittliche Nutzer in einer Industrienation wie Deutschland, Japan oder den USA können diese beiden Aufgaben lösen? Sie werden wahrscheinlich überrascht sein – ich war es jedenfalls.

Nur 60 Prozent der Erwachsenen können Aufgabe eins lösen. 26 Prozent hatten sogar angegeben, gar keine Erfahrung mit Computern zu haben oder sind bei noch einfacheren Aufgaben gescheitert (wie Scrollen, ein Programm öffnen oder ein E-Mail löschen).

Die komplexe Aufgabe können lediglich 5 Prozent der Erwachsenen in der OECD lösen.

Das klingt dramatisch. Wahrscheinlich alle, die diesen Newsletter lesen, lösen jeden Tag etliche Aufgaben mit dem Computer, die deutlich komplexer sind. Kann das sein? Ein Blick in die Studie zeigt: Sieht man z.B. nur Deutschland an, sind die Zahlen etwas besser. 67 Prozent können hier die einfache Aufgabe lösen und 7 Prozent die komplexe – immer noch erschreckend wenig. So wenig, dass man sich fragt, ob die Studie stimmen kann.

Kann es wirklich sein, dass nur 7 Prozent der Bevölkerung in der Lage sind, die Möglichkeiten, die PCs und Smartphones heute bieten auch nur annähernd zu auszunutzen?

Ich kann die Frage nicht beantworten – aber für mich sind die Ergebnisse wieder eine Bestätigung dafür, dass wir versuchen sollten, unsere Anwendungen so nutzerfreundlich wie möglich zu machen, um möglichst breite Zielgruppen ansprechen zu können. Und das erreichen wir nur, wenn wir die Anwendungen immer mit Nutzern in Usability-Tests prüfen.

Wer sich selbst ein Bild von der Studie machen will: Diese ist kostenlos erhältlich (nur auf Englisch und Französisch): Skills Matter – OECD iLibrary
Die Kurzzusammenfassung bei Nielsen: The Distribution of Users’ Computer Skills: Worse Than You Think

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