Nutzerforschung im Home Office – Newsletter 4/2020

Viele von uns sitzen zur Zeit im Home Office. Selbst wer das Glück hat, in einer ausreichend großen Wohnung zu wohnen, und mit den neuen Bürokollegen zufrieden ist, muss seine Arbeitsweise oft radikal umstellen.

Problematisch ist das für uns alle, die wir konzipieren, designen, umsetzen. Denn um das gut zu machen, brauchen wir immer wieder Kontakt zu den Nutzern. Und gerade der ist zur Zeit extrem eingeschränkt. Und doch können wir weiter Nutzerbeteiligung durchführen, das geht zum Glück auch aus der Ferne.

Nachdem ich schon seit Jahren viele Aktivitäten remote mache, hier ein paar Tipps, wie Sie die Zeit im Home Office nutzen können, um die UX Ihrer Website oder Anwendungen zu verbessern. Vielleicht sind ja einige sonst übliche Aufgaben derzeit unmöglich – und Sie können die freien Kapazitäten verwenden, Ihre Site bzw. Ihr Produkt einen großen Schritt voran zu bringen.

Foto Frau im Home Office
So angenehm Home Office sein kann: Nutzerforschung von hier aus ist nicht leicht – aber möglich.

Tipp 1: Usability Reviews

Für den ersten Tipp brauchen Sie überhaupt keine Nutzer. Sie versetzen sich statt dessen in diese hinein. Das ist zwar kein Ersatz für echte Nutzerforschung – aber gerade, wenn Sie bisher wenig Usability-Tests gemacht haben, finden Sie damit einige wichtige Dinge heraus, die Ihnen helfen, in sehr kurzer Zeit einige ganz grundlegende Probleme zu lösen.

Überraschend oft passiert mir Folgendes: Ich werde beauftragt, Usability-Tests zu machen und sehe mir dann das Testobjekt zunächst selbst einmal an, um die Testaufgaben festzulegen. Schon bei diesem schnellen ersten Test finde ich oft Probleme, die ganz grundsätzlich sind.

So war es bei einer Shopping-Website, die ich neulich untersucht habe, nicht möglich, mit dem Einkauf zur Kasse zu gehen, wenn nur 1 Artikel im Warenkorb lag. Auf Nachfrage hieß es: „Ah, ja, das … das liegt, daran, dass wir …“ – es folgte eine längere technische Begründung. Das zeigt: Oft wissen einzelne Personen im Unternehmen schon, was man dringend ändern müsste, es braucht nur jemanden, der die Änderungen angeht.

Viele weitere, noch unbekannte Probleme treten schon zutage, wenn Sie sich einfach für eine Stunde in die Situation Ihrer Benutzer versetzen und mit Ihrer Website so umgehen, wie diese es würden. Sie beginnen dort, wo ihre Benutzer sind – z.B. also mit einer Google-Suche. Dann klicken Sie sich so durch Ihre Site, wie ein Benutzer mit einer konkreten Frage es tun würde. Sie sehen nichts gründlicher an, als dieser es tun würde, sie überspringen aber auch nichts. Allein mit dieser einfachen Übung werden Sie fast immer etliche Dinge finden, die Sie sofort verbessern können.

Generell lohnt es sich natürlich auch immer, Experten zu beauftragen, einen UX-Review (Expert Review) durchzuführen. Diese bringen mehr Erfahrung aus Nutzertests (und mehr Wissen über Nutzer und deren Verhalten) mit und finden daher mehr Probleme, können diese besser einordnen und machen Vorschläge zur Verbesserung. 

Tipp 2: Befragungen / Fragebögen

Befragungen mit Online-Fragebögen sind gut geeignet, um Ihre Nutzer etwas besser kennen zu lernen. Eine Falle gibt es hier jedoch, in die Sie keinesfalls tappen sollten: Die meisten denken, die Befragung sei eine einfache und direkte Technik. Fragebögen gehören aber zu den Werkzeugen, bei deren Anwendung in der Nutzerforschung am meisten Fehler gemacht werden. Nach meiner persönlichen, rein subjektiven Schätzung sind die Ergebnisse von zwei Dritteln aller Befragungen entweder fehlerhaft oder es werden die falschen Schlüsse daraus gezogen.

Der wichtigste Grund dafür: Fragen wir Menschen etwas, dann erfahren wir ihre Meinung – aber nicht, was sie wirklich tun oder tun würden. Ginge es nach Umfrageergebnissen, gäbe es keine billigen Shows im Fernsehen, keine Pornografie im Internet und am Büffet nur Salat und Gemüse.

Manche Dinge geben wir bei Befragungen nicht zu, von anderen wissen wir selbst nicht, dass oder wie oft wir sie tun. Daher ist die Beobachtung der Nutzer so wichtig, die Befragung ist immer nur ein Ersatz.

Und doch können wir mit Befragungen wertvolle Erkenntnisse gewinnen. 

Zu Befragungen kann man ganze Bücher lesen, und Details würden den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Wenn Sie aber diese 3 Grundregeln befolgen, sind Sie schon Welten besser als die meisten, die dieses Werkzeug nutzen:

  1. Fragen Sie nach vergangenem, tatsächlichem Verhalten – nicht nach hypothetischem, zukünftigen.
  2. Stellen Sie so wenig Fragen wie möglich.
  3. Überlegen Sie genau, welche Infos die Befragten überhaupt bereit sind, zu geben – und wo sie entweder gar nicht oder falsch antworten.

Zu Punkt 1 noch eine kurze Erklärung, weil er so entscheidend ist: statt etwa zu fragen:

Was ist für Sie wichtig, wenn Sie ein neues Smartphone kaufen wollen?

Fragen Sie besser:

Erinnern Sie sich an den Kauf Ihres letzten Smartphones: Welche Kriterien waren für Sie ausschlaggebend, das Modell zu kaufen, welches Sie gekauft haben?

Mit dieser Umformulierung bitten Sie die Befragten, über ihre tatsächlichen Entscheidungskriteriennachzudenken, nicht über ihre Traumvorstellungen. Natürlich vergisst man manches und ist sich auch nicht aller Gründe für seine Entscheidungen bewusst. Daher müssen Sie auch die Antworten auf gut gestellte Fragen immer mit der notwendigen Vorsicht interpretieren.

Vorschaubild Zitat McGovern Nutzerverhalten
McGovern bringt es gut auf den Punkt – daher ist es unverzichtbar, Nutzerforschung zu betreiben.

Tipp 3: Interviews

Aufwendiger, aber oft lohnender, sind Interviews mit Nutzern. Es ist zwar etwas schwieriger, Gesprächspartner dafür zu finden, als Antwortende für Online-Fragebögen. Aber oft ist es möglich, einfach bestehende Kunden anzusprechen. Diese fühlen sich nicht selten geschmeichelt, wenn sie um ihre Meinung gefragt werden. Und sie wollen gern helfen, Produkte zu verbessern, mit denen sie selbst arbeiten.

Solche Interviews können Sie per Telefon durchführen. Noch besser ist es, wenn Sie eine Videokonferenz machen, mit der Sie den Bildschirm Ihres Gesprächspartners sehen können (Screensharing). Denn dann können Sie sich direkt zeigen lassen, wie die Person mit der Anwendung arbeitet.

Versuchen Sie, so nah wie möglich an der tatsächlichen Arbeit zu sein. Fragen Sie konkret, wie Ihr Gegenüber bestimmte Probleme löst. Lassen Sie sich berichten oder zeigen, welche Schwierigkeiten auftreten. Und fragen Sie auch nach den positiven Momenten, wie die Anwendung die Menschen erfreut oder ihnen Arbeit spart.

Tipp 4: Remote Tests

Ebenfalls per Videokonferenz können Sie remote Usability-Tests durchführen. Das heißt, Sie geben dem Probanden eine Aufgabe, die er mit der Anwendung durchführen soll. Sie bitten ihn, dabei laut zu denken und sehen ihm via Screensharing zu, wie er die Aufgabe löst.

An sich funktioniert das genau so wie ein klassischer Usability- oder UX-Test. Klar ist man etwas eingeschränkt, weil man die Körpersprache des Probanden nicht so gut beobachten kann und die Situation unnatürlicher ist. Aber solche synchronen Remote Usability Tests (sRUT) sind eine ganz gute Lösung, die auch zum Einsatz kommt, wenn die Probanden weit weg sind oder aus anderen Gründen nicht ins Usability-Labor kommen können. Synchron heißen sie, weil Sie und Ihr Proband gleichzeitig vor dem Bildschirm sitzen.

Dann gibt es die asynchronen Remote Usability Tests (aRUT). Dabei teilen Sie den Probanden ihre Testaufgaben schriftlich mit. Diese nehmen ihre Sitzung dann normalerweise per Screenrecording auf und berichten nach dem Test über ihre Erfahrungen per Online-Fragebogen.

Das bedeutet, die Probanden sind auf sich gestellt, sie müssen von sich aus gut „laut denken“ und ihre Beobachtungen mitteilen. Und Sie haben keine Möglichkeit, direkt zu steuern oder nachzufragen. Das heißt, die Ergebnisse sind weniger gut als bei synchronen Tests. Sie sollten also immer deutlich mehr Probanden vorsehen, um das zumindest ein bisschen auszugleichen. 

Ein paar allgemeine Tipps für Usability-Tests finden Sie auch hier: Usability-Tests durchführen

Tipp 5: Analytics, A/B-Tests

Letzter Tipp: Nutzen Sie die Zeit, um die Zugriffsdaten Ihrer Website oder Nutzungsdaten Ihrer App zu analysieren. Das ist generell eine gute Idee, wird aber oft etwas stiefmütterlich behandelt, es ist eines von den Dingen, für die oft die Zeit fehlt.

Grund ist, dass die Analyse nicht ganz einfach ist. Die Werkzeuge wie Google Analytics oder Matomo geben zwar schön formatierte, umfassende Zahlen und Diagramme aus – aber kaum jemand weiß, was man mit diesen genau anfangen soll. 

Das Wichtigste dabei: Die Zahlen geben Ihnen nur Hinweise. Sie sind der Ausgangspunkt für weitere Nachforschungen. Sie sehen also z.B., dass ein Besucher die Startseite geöffnet und nach 10 Sekunden wieder geschlossen hat. War dies nun ein erfolgreicher Besuch oder nicht?

War der Besucher von der Gestaltung so abgeschreckt, dass er die Site gleich wieder verlassen hat? Oder hat er sich getäuscht und er wollte eigentlich auf eine andere Website? Oder kam der Besucher, um die korrekte Schreibweise Ihrer Organisation nachzusehen? Im letzten Fall war sein kurzer Besuch ein Erfolg – der Besucher hat den gesuchten vollen Namen gleich oben im Logo gesehen.

Auch die absoluten Zahlen sind nur ein Anhaltspunkt. Viele Besucher oder viele Seitenaufrufe sind nicht einfach nur positiv. Und generell sind vor allem längerfristige Entwicklungen viel aussagekräftiger als Momentaufnahmen. Daher lohnt es sich, die Zahlen langfristig im Blick zu behalten, Veränderungen zu beobachten und sich langsam mit der Materie vertraut zu machen. 

Tipps dazu: Three Uses for Analytics in User-Experience Practice

A/B-Tests schließlich sind vom Prinzip her genial einfach: Sie erstellen z.B. für eine neue Produktdetailseite zwei Varianten – A und B. Dann zeigen Sie der Hälfte der Website-Besucher Variante A, der anderen Hälfte Variante B. Sie messen, über welche Seite sie mehr Downloads, Verkäufe oder Kontaktanfragen bekommen. Dann sehen Sie, welche der beiden Varianten erfolgreicher war. 

Der Haken daran: Diese Methode können Sie nur einsetzen, wenn Sie sehr viele Besucher auf der Site haben. Mit ein paar Hundert Besuchern am Tag werden Sie kaum auf sinnvolle Ergebnisse kommen. Hier macht uns die Statistik einen Strich durch die Rechnung.

Schema A/B-Testing
Bei A/B-Tests teilen Sie die Testgruppe in zwei Teile, die jeweils eine unterschiedliche Version sehen.

Außerdem verführt A/B-Testing dazu, schnell einfach mal Dinge auszuprobieren – ohne sich vorher zu überlegen, was überhaupt eine sinnvolle Veränderung ist. So optimiert man in ganz kleinen Schritten, verliert aber möglicherweise den Blick fürs große Ganze.

Wenn man diese Gefahren berücksichtigt, bieten A/B-Tests aber die Möglichkeit, schnell und vergleichsweise einfach immer wieder kleine Optimierungen vorzunehmen.

Ein paar Hintergründe zum A/B-Testing, psychologischen Fallstricken und Statistik: Newsletter 10/2013 – Intuition & Wissenschaft für bessere Websites

Was meinen Sie? Welche Methoden setzen Sie ein, um im Home Office weiter nah an Ihren Nutzern zu sein? Ich freue mich über Kommentare im Blog!

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