UX-Design: etabliert & missverstanden – Newsletter 6/2024

Gute User Experience ist ein Erfolgsfaktor. Das haben Unternehmen begriffen, deshalb sagen heute fast alle Produktentwicklungs-Teams, UX-Design zu machen. Und doch erlebe ich immer wieder, dass es ein grundsätzliches Missverständnis gibt.

Dass User Experience weit mehr ist, als das optische Anrichten von Webseiten und das Design intuitiver Buttons, das ist inzwischen allen klar. Auch, dass UX ein komplexes Feld ist, das tiefgreifendes Verständnis und strategische Planung erfordert. Das heißt, beim UX-Design geht es immer auch um den Markt, um die Marke, ums Marketing, um wirtschaftliche Entscheidungen. Auch diese Erkenntnis hat sich bei vielen durchgesetzt.

Dennoch sehe ich in der Praxis häufig zwei grundlegende Fehler, die Missachtung von zwei Grundprinzipien:

  1. UX-Design geht nicht ohne Einbeziehung der Nutzenden.
  2. UX-Design geht nicht ohne Iterationen, also Optimierungsschleifen.
Verzweifelte Nutzerin vor dem Computer
Die meisten Produkt-Teams bekommen sie nie zu Gesicht: Echte Menschen, die ihre Produkte nutzen.

Der erste Fehler ist, keine Nutzenden, also echte Menschen, in den Design- und Entwicklungsprozess einzubeziehen. Fast immer werden Produkte auf Basis von Annahmen oder bisherigen Erfahrungen konzipiert. Die Folge: Lösungen, die an den Bedürfnissen und Erwartungen der Zielgruppe vorbeigehen – zumindest zum Teil.

Der zweite, ebenso kritische Fehler ist das Fehlen von Iterationen, also Optimierungsschleifen. Teams planen erst gegen Ende der Entwicklungsphase einen Usability-Test – ein Ansatz, der nicht nur riskant, sondern oft auch kostspielig ist. Effektive UX erfordert eine Kultur des regelmäßigen Testens und Iterierens. Wir müssen Dinge so früh wie möglich ausprobieren, um kontinuierlich zu lernen und das Produkt immer weiter anzupassen.

Die richtigen Produkte und Funktionen umsetzen

Bei der Neuentwicklung oder Verbesserung von Produkten verlassen sich viele Teams auf ihre Erfahrung und auf ihr Gespür. Beides ist unerlässlich, um auf gute Ideen zu kommen, wie man die Nutzenden begeistern kann. Und doch:
Ohne echtes Nutzerfeedback basieren unsere Entscheidungen auf Spekulation, überholten Daten oder falschen Annahmen.

Dabei geht es weniger darum, dass völlig an der Zielgruppe vorbei entwickelt wird. Das kommt zwar auch vor bei Start-ups wie auch Innovations-Abteilungen großer Unternehmen. Der „AI Pin“, der KI-Chat-Assistent zum Anstecken, scheint ein aktuelles Beispiel für so ein Produkt zu sein.
Bei den meisten Teams dagegen geht es nicht darum, eine neue Produktkategorie zu erfinden, sondern Nutzenden Lösungen für Probleme zu bringen, die recht klar auf der Hand liegen. Und doch ist auch hier die Einbeziehung von echten Menschen in die Konzeption entscheidend.

Die größte Gefahr ist, dass wir uns für Ideen begeistern, die gut klingen, aber z.B. Nachteile haben, die wir nicht kennen. Oder dass wir falsch einschätzen, was unsere Zielgruppe davon hält. Im besten Fall bedeutet das: Unsere Mühe war umsonst, weil die neue Funktion nicht angenommen wird von den Nutzenden. Im schlimmsten Fall bedeutet es: Wir verärgern die Nutzenden, weil sie unser Produkt nicht mehr so verwenden können, wie es am besten für sie ist.

Aus genau dem Grund ist das Einbeziehen der Menschen in die Entwicklung so wichtig. Und aus genau dem Grund ist auch das Iterieren so wichtig: Bevor wir die vollständige neue Funktion umsetzen und für alle unsere Nutzenden zugänglich machen, sollten wir lieber erstmal einen Teilaspekt umsetzen und zu diesem Feedback von ein paar Menschen aus der Zielgruppe einholen. So stellen wir fest:

A) Unsere Idee ist großartig.
B) Unsere Idee hat Potenzial, muss aber verändert werden.
C) Unsere Idee funktioniert so nicht.

Der Fall C kann viele Gründe haben. Möglicherweise versteckt sich dahinter ein Fall B. Wenn die Nutzenden z.B. einfach nicht verstanden haben, wie die neue Funktion zu benutzen ist oder was sie bringt. Dann bekommen wir möglicherweise das Feedback, dass unsere Idee nichts ist. Aber eventuell können wir sie doch noch so verändern, dass sie nützlich für die Nutzenden ist.

Wie beziehe ich die Nutzenden ein?

„Einfach mal die Nutzenden fragen“ ist kein hilfreicher Ansatz. Das ist zwar besser als die Zielgruppe überhaupt nicht einzubeziehen. Es ist aber problematisch, weil es gar nicht so leicht ist, wirklich gute Fragen zu stellen. Wir selbst wissen oft nicht, welche Funktionen wir nutzen würden. Aber wir glauben immer, das beurteilen zu können. Da irren wir uns aber. Sonst gäbe es nicht so viele Fehlkäufe. Und wir würden nicht immer wieder neue Apps installieren, die wir für super nützlich halten – um sie dann nach zwei, drei Nutzungen zu vergessen. Ich würde diese App häufig nutzen – aber gemacht habe ich es nicht.

User Research bietet eine Reihe von Methoden, die es uns erlauben, mehr über unsere Zielgruppen zu lernen und auf Ideen zu kommen, was sie wirklich nutzen werden. Drei Empfehlungen:

Ethnografische Studie

Was erstmal nach Forschungsexpedition in den Regenwald klingt, ist eine ganz einfache Vor-Ort-Beobachtung. Sie gehen dorthin, wo Ihre Nutzenden sind. Also setzen Sie sich mit diesen auf die Couch oder an den Schreibtisch. Sie lassen sich genau zeigen, was die Menschen tun, welche Probleme sie dabei haben und was sie sich wünschen.
Der letzte Teil (die Wünsche) sind der schwierigste, die müssen Sie mit großer Vorsicht interpretieren. Denn das sind Meinungen, Interpretationen, welche die Zukunft, die hypothetische, noch nicht vorhandene Produkte oder Funktionen betreffen. Die tatsächliche Nutzung und die Probleme dagegen sind real und die sollten Sie in den Mittelpunkt Ihrer Entwicklung stellen.

Nutzungstagebücher

Mit einer Tagebuch-Studie (diary study) können Sie Verhaltensmuster über einen längeren Zeitraum erfassen. Nutzende halten dabei jedes Mal fest, wenn sie ein bestimmtes Produkt einsetzen oder eine bestimmte Tätigkeit ausführen. Dadurch bekommen Sie Daten darüber, wie Nutzende Produkte im Alltag verwenden, welche Herausforderungen auftreten und welche Aspekte besonders geschätzt oder als störend empfunden werden.

Customer Journey Maps

Customer Journey Mapping ist an sich keine Methode, die neue Erkenntnisse bringt. Aber es ist eine hervorragende Methode, die zuvor gewonnenen Erkenntnisse so aufzubereiten, dass alle im Team richtig verstehen, welche Probleme und Bedürfnisse die Zielgruppe haben.
Damit visualisieren Sie den Weg der Nutzenden vom Problem zur Lösung oder beim Einsatz Ihres Produkts. Das hilft, Empathie aufzubauen und die Produktentwicklung an realen Anwendungsszenarien auszurichten. (Siehe auch hier im Blog: Customer Journey Maps erstellen)

Es gibt natürlich noch eine ganze Reihe Methoden mehr – genannt seien nur Web-Analytics, Card Sorting und auch Interviews. Sie alle helfen Ihnen zu verstehen, wie Nutzende ticken und geben Ihnen damit eine Grundlage, wirklich nützliche Dinge zu entwickeln.

Usability-Test im Uselab
Die wichtigste Methode: Usability-Tests. Nur, wenn Sie Menschen Ihre Anwendung (oder einen Prototypen) testen lassen, erfahren Sie, wie Nutzende mit dieser tatsächlich umgehen.

Optimierungsschleifen – Usability-Tests richtig eingesetzt

Der zweite problematische Punkt ist, dass manche Teams eine Idee entwickeln, eine Funktion konzipieren und umsetzen – fertig. Wenn sie gut sind, machen sie mit einer (weitgehend) finalen Version einen Usability-Test, um sicherzustellen, dass die Nutzenden mit dem Produkt klarkommen. Bzw. eigentlich ist es anders: Die Teams wollen gern feststellen, dass die Nutzenden mit dem Produkt klarkommen. Sie sind höchstens darauf eingerichtet, ein paar minimale Änderungen zu machen, wenn das nicht so ist. So werden dann z.B. ein paar Info-Fenster eingebaut, die man beim ersten Öffnen einer App wegklicken muss, die einem vermitteln sollen, was die Testpersonen nicht verstanden hatten.

Solche Usability-Tests sind besser als gar keine. Aber eigentlich sinnvoll sind Tests so früh wie möglich in der Entwicklung. Nur dann kann ich noch Anpassungen an der zugrunde liegenden Idee und an den dahinter stehenden Konzepten vornehmen. Ein paar Ideen:

Konzept-Tests

Haben Sie erste grundlegende Ideen, können Sie diese bereits mit Menschen aus Ihrer Zielgruppe testen. Zeigen Sie diesen Scribbles, Skizzen oder einfache Wireframes (Seitenaufteilungen ohne viel Gestaltung). Versuchen Sie dabei, so konkret wie möglich zu werden. Also möglichst wenig Meinung abzufragen („Wie gefällt Ihnen das?“), sondern mehr über Aktionen zu sprechen („Was erwarten Sie hinter diesem Button?“).

Papier-Prototyp-Tests

Für Websites und Apps können Sie mit wenig Aufwand die wichtigsten Seiten bzw. Screens auf Papier skizzieren oder mit einem Zeichenprogramm visualisieren. Beschriften Sie zumindest die Buttons und setzen Überschriften auf die Seiten, dann können Sie damit erste schnelle Usability-Tests durchführen.

Prototypen-Tests

Von Prototypen- oder Klick-Dummy-Tests spricht man, wenn die Testpersonen am PC oder Smartphone mit einer ersten Version Ihrer Lösung interagieren. Die kann noch ganz anders aussehen als die spätere Gestaltung. Wichtig ist: Der Prototyp sollte möglichst schnell entstehen und Sie sollten ihn so früh wie möglich testen. Denn dann können Sie in der Entwicklung noch notwendige Korrekturen machen, bevor diese schon zu weit fortgeschritten ist. Und Sie haben dann noch Zeit, weitere Testrunden durchzuführen – und so zum echten iterativen Arbeiten zu kommen.

Fazit

Wenn Sie und Ihr Team wirklich einen großen Schritt weiter im UX-Design kommen wollen, dann planen Sie für Ihr nächstes Projekt, die nächste Funktion, die nächste Überarbeitung zumindest ein, zwei Tage User Research und zwei, drei Usability-Tests mit ganz frühen Versionen ein. Sie werden sehen, dass dabei viele neue und wertvolle Erkenntnisse über die Menschen zutage kommen, die Sie und Ihr Produkt wirklich voranbringen. Und Sie werden sehen, dass die Qualität wie auch der Spaß an der Arbeit für alle im Team deutlich steigen.
Allen, die ihre Fähigkeiten in diesem Bereich vertiefen möchten, empfehle ich auch mein neues, gerade frisch veröffentlichtes LinkedIn-Learning-Video Grundlagen der UX, das Ihnen einen umfassenden Überblick bietet und alle wichtigen Methoden vorstellt, um Ihre Projekte noch besser zu machen. Ich freue mich auf Ihr Feedback!

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1 Gedanke zu „UX-Design: etabliert & missverstanden – Newsletter 6/2024“

  1. Ich stimme dem Artikel voll und ganz zu. Besonders der Abschnitt über Prototypen-Tests spricht mir aus der Seele. Zu oft werden Prototypen unterschätzt, dabei bieten sie eine hervorragende Möglichkeit, frühzeitig Feedback zu sammeln und das Produkt iterativ zu verbessern. Gerade in der frühen Phase der Entwicklung können einfache Wireframes oder Klick-Dummys immense Erkenntnisse bringen. Es freut mich zu sehen, dass der Artikel auf die Bedeutung von Usability-Tests in verschiedenen Entwicklungsphasen hinweist.

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