Alles wird gut mit positive UX design? – Newsletter 11/2024

Wer zu mir kommt, um seine Website oder App zu verbessern, muss sich auf einiges gefasst machen. Ob es ein schneller UX-Review ist oder ein umfangreicher Usability-Test: Das Ergebnis ist immer ein langer Bericht, welche Probleme ich bzw. die Nutzenden gefunden haben. Natürlich versuche ich immer, auch positive Aspekte darzustellen. Schließlich haben fast immer Teams viele, viele Stunden in das Produkt gesteckt und oft viel Herzblut. Und daher tut es ihnen gut, auch etwas Positives zu lesen.

Aber dafür werde ich nicht bezahlt und die Teams auch nicht. Letztlich geht es darum, was man verbessern kann. Das kann man natürlich auch positiv sehen. Schließlich gebe ich viele Hinweise, wie die User Experience verbessert werden kann.

Einen etwas anderen Ansatz verfolgt das positive UX-Design, der aber als ergänzend gesehen werden sollte, nicht als Konkurrenz.

Was ist „positive UX design“?

Positive UX design will Nutzungserlebnisse schaffen, die über die reine Funktionalität hinaus gehen. Es geht also nicht nur darum, Menschen zu helfen, eine Aufgabe effektiv, effizient und zufriedenstellend zu erreichen. (Was das klassische Ziel der Usability ist.)

Schon Ende des 20. Jahrhunderts weiteten wir unseren Blick und untersuchten nicht nur Usability, sondern die umfassendere User Experience (UX). Wir wollen seitdem nicht mehr nur zufriedene Nutzende, sondern am besten begeisterte.

Das Positive mitzudenken, ist also schon lange ein Ziel derjenigen, die im Bereich UX arbeiten. Wo liegt nun der Mehrwert des positive UX design?

Es geht nicht nur darum, Menschen zu begeistern durch wirklich gut gemachte Produkte. Es geht vielmehr darum, sich am Anfang eines Projektes die Frage zu stellen, welche positiven Erlebnisse ein Produkt bieten soll und wie es die Menschen in ihrem Wachstum unterstützen kann.

Bestätigungsscreen DB-App bei Check-In
Beim erfolgreichen Check-in mit der DB-App gibt es eine bildschirmfüllende grüne Karte. Für die reine Bestätigung hätte auch ein kleiner grüner Haken gereicht, aber so fühle ich als Nutzender mich besser.

Positive Psychologie: Mehr als nur gute Laune

Die Schule der „Positiven Psychologie“ geht auf den bekannten Psychologen Abraham Maslow zurück (der mit der Bedürfnis-Pyramide) und wurde Ende der 1990er Jahre von seinem Kollegen Martin Seligman populär gemacht. Sie legt im Gegensatz zur traditionellen Psychologie den Schwerpunkt nicht auf Störungen, sondern auf Faktoren für psychische Gesundheit und Wohlbefinden. Ein wichtiger Vordenker war der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi, der schon in den 1970er Jahren mit dem „Flow“ (dem völligen Aufgehen in einer Tätigkeit) eine Grundlage legte und später mit Seligman zusammenarbeitete.

Heute ist die Positive Psychologie eine Disziplin, die von der Unternehmensführung bis zum UX-Design verschiedene Felder beeinflusst. Dabei bleibt Kritik nicht aus. In der praktischen Anwendung gibt es den Vorwurf, die Verwertbarkeit der menschlichen Arbeitsleistung in den Vordergrund zu stellen. Aber es gibt auch Kritik aus der Psychologie (die Belege der Forschung zu positiven Effekten der Positiven Psychologie scheinen nicht besonders gut gesichert zu sein). Auch spielt Negatives eine wichtige Rolle für unser psychisches Wachstum – wer nur Positives wahrnimmt, dem fehlen wichtige menschliche Erfahrungen.

Positive Psychologie in der Produktentwicklung

Im UX-Kontext werden Aspekte der Positiven Psychologie eingesetzt, um Produkte zu schaffen, die positive Emotionen fördern und das Wohlbefinden der Nutzenden steigern.

Das klingt erstmal gut und lobenswert. Und meiner Meinung nach ist es auch das, wozu wir dieses Mittel vorrangig einsetzen sollten.

Auszeichnungen auf der Apple Watch
Smartwatches wie die Apple Watch vergeben am laufenden Band Auszeichnungen für jeden noch so kleinen sportlichen Erfolg. Und doch motiviert es.

Etwas schwieriger wird es, wenn wir einen Bereich ansehen, der aus kaum einer Anwendung mehr wegzudenken ist: Gamification. Viele Apps integrieren spielerische Elemente, um Nutzer zu motivieren und zu begeistern. Oder auch Belohnungssysteme wie die scheinbar allgegenwärtigen Auszeichnungen, Abzeichen oder Trophäen, die insbesondere in Fitness-Apps wie Strava oder Fitbit nutzen, um ihre Nutzenden zu motivieren, sie möglichst häufig zu verwenden.
Oder das Einhorn, das auf einem Regenbogen über den Bildschirm fliegt, wenn man in der Projektmanagement-Software Asana eine Aufgabe erledigt hat.

Der schmale Grat zur Manipulation

Wenn wir Anwendungen gestalten, ist es ein gutes Ziel, den Nutzenden das Leben so schön wie möglich zu machen.

Aber die Grenze zur Manipulation ist schnell überschritten. Dann sind wir bei den sogenannten „Dark Patterns“. Diese Designprinzipien zielen darauf ab, Nutzende zu bestimmten Handlungen zu bewegen, ohne deren Wohl im Blick zu haben. Ein positiver Anreiz kann also zur Manipulation werden. So wie etwa die endlos scrollbaren Timelines von Social-Media-Angeboten: Erstmal macht es mir gute Laune, so viel Unterhaltsames geboten zu bekommen. Doch irgendwann lege ich das Smartphone aus der Hand und fühle mich schlecht, so viel Zeit damit verbracht zu haben – meine Autonomie wurde hier eingeschränkt, auch weil es eben so gestaltet wurde vom Produktteam.

Benachrichtigung von Duolingo
Lily von Duolingo nervt, dass wir unsere tägliche Duolingo-Lern-Lektion noch nicht gemacht haben.

Ein letztes Beispiel: Meditations-Apps wie Headspace oder Calm sollen Entspannung fördern. Doch wenn sie uns ständig daran erinnern, unsere täglichen Sitzungen nicht zu verpassen, kann das Stress machen. Statt Entspannung haben wir einen weiteren To-Do-Punkt im ohnehin vollen Alltag.

Und müssen wir wirklich jeden Klick feiern und zu einem „Moment der Freude“ machen?

Positive UX Design – aber richtig

Positive UX design ist ein guter Ansatz – wenn wir es richtig einsetzen. Statt oberflächlicher Feel-Good-Mechaniken brauchen wir:

  • Ehrliche Auseinandersetzung mit den Zielen der Nutzenden
  • Respekt vor der Komplexität menschlicher Bedürfnisse und Erfahrungen
  • Mut zu produktiver Frustration
  • Ethisches Hinterfragen unserer Design-Entscheidungen

Gutes UX-Design heißt nicht, alles Negative zu vermeiden, sondern die Balance zu finden zwischen Unterstützung und Herausforderung, zwischen Freude und Frustration, zwischen Leichtigkeit und Lernkurve.

Letztlich geht es nicht darum, durchweg positive Erfahrungen zu gestalten, sondern bedeutungsvolle. Also statt nur „positive UX design“ wäre ich eher für „meaningful UX design“ – auch wenn das natürlich nicht ganz so griffig klingt.

Links

Der folgende Text geht richtig in die Tiefe. Und er geht weit über das Thema positive UX design hinaus, er verwendet den Begriff nicht einmal. Er befasst sich mit „kindness“ im Design – das kann man übersetzen mit Freundlichkeit, Güte oder Wohlwollen. Hätten Sie die Güte, sich 15 Minuten Zeit für den Text zu nehmen? Die Nutzerinnen und Nutzer Ihrer Produkte werden es Ihnen danken:
Five Essential Qualities of Kindness and how to Design for them

Ganz pragmatisch und schnell zu lesen dagegen diese kurze Zusammenfassung auf Deutsch:
UX-Design: Glücklichere User durch positives Webdesign

Und wer den Austausch sucht, findet diesen beim Berufsverband:
Arbeitskreis The Positive X German UPA

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