Als UX-Profis ist es eine unserer wichtigsten Aufgaben, alle im Team immer wieder daran zu erinnern, für welche Menschen wir unsere Produkte gestalten. Das ist so einfach wie im Projektalltag schnell vergessen. In der Praxis sprechen wir oft über „die Zielgruppe“ oder „die Nutzenden“. Aber wer ist das? Wer denkt dabei an echte Menschen?
Aber genau das ist es, was wir immer wieder tun sollten, wenn wir wirklich gute, wirklich erfolgreiche Produkte und Dienstleistungen konzipieren und umsetzen wollen: An die einzelnen Menschen denken.
Ein etabliertes Werkzeug, das uns dabei hilft, sind Personas. Die haben aber ein Problem: Es gibt einige Leute, die sie unbrauchbar finden. Sie haben Argumente dafür und alternative Methoden. Ein viel größeres Problem sind aber Leute, die Personas falsch verstehen oder zumindest falsch einsetzen. Richtig eingesetzt sind Personas eine großartige Hilfe. Ein gutes Instrument, um wirklich menschzentrierte Entwicklung zu machen, wie sie an sich alle gern machen würden. So erreichen wir eine Win-win-Situation für die Nutzenden und diejenigen, die mit dieser Anwendung Geld verdienen wollen.
Personas: Ein bewährtes Werkzeug in neuer Betrachtung
Nur ganz kurz, damit wir alle vom Gleichen sprechen: Personas sind fiktive Kurzporträts der Menschen, für die Sie Ihre Website oder Anwendung erstellen. Personas zu erstellen, hat zwei große Vorteile:
- Wir zwingen uns, uns gründlich mit unserer Zielgruppe auseinanderzusetzen und wir müssen daher intensiv über diese nachdenken (und darüber im Team zu diskutieren).
- Wir machen die abstrakte Zielgruppe konkret und erleichtern es allen im Team, sich in die Menschen hineinzuversetzen, für die wir unser Produkt erstellen.
Personas ohne Geschlecht und Alter?
Immer mehr UX-Profis plädieren dafür, die demografischen Aspekte von Geschlecht und Alter in Personas wegzulassen. Alan Klement und Indi Young gehören zu den prominentesten Verfechtern dieser Idee (Links am Ende des Textes). Sie argumentieren, dass solche Merkmale häufig stereotype Annahmen fördern, die nicht zur tatsächlichen Nutzungserfahrung gehören. Sie meinen, wir sollten stattdessen den Fokus auf Verhaltensdaten und Ziele der Nutzenden legen – das sind letztlich die Aspekte, die wir berücksichtigen müssen, wenn wir ein gutes, menschzentriertes Produkt schaffen wollen.
Die Vor- und Nachteile im Überblick
Vorteile, auf Alter und Geschlecht bei Personas zu verzichten:
- Stereotypenfreiheit: Wir befreien uns von Vorurteilen, die die Designrichtung negativ beeinflussen könnten.
- Inklusivität steigern: Wir sprechen diversere Gruppen von Nutzenden ohne vorgefasste Standardkategorien an.
- Relevanz schärfen: Wir konzentrieren uns auf wesentliche Merkmale, die tatsächlich das Verhalten der Nutzenden beeinflussen.
Das passt auch sehr gut zum letzten Newsletter, in dem es um das Konzept der Generationen geht, und warum dieses problematisch ist: Generationen gibt es nicht
Nachteile, wenn wir Alter und Geschlecht ignorieren: - Abstraktere Vision: Personas ohne Alter und Geschlecht könnten weniger greifbar und konkret erscheinen. Auch müssen wir dann konsequenterweise auf ein Foto verzichten, was die Persona automatisch weniger „menschlich“ macht.
- Empathie-Herausforderung: Es wird schwieriger, eine emotionale Bindung zur Persona zu schaffen, diese bauen wir Menschen nun einmal am leichtesten auf, wenn wir es mit Menschen zu tun haben.
Warum Personas weiter relevant sind
Aus meiner Sicht bleibt die Methode der Personas weiter ein wichtiges, nützliches Werkzeug. Personas fungieren als Brücke zwischen abstrakter Zielgruppe und konkretem Nutzungsverhalten, was schnelle und qualifizierte Designentscheidungen ermöglicht.
Kritiker wie Steve Portigal warnen, dass Personas leicht in Stereotypen abrutschen können, insbesondere wenn sie ohne fundierte Datenbasis entwickelt werden. Damit hat er Recht, aber nur, weil ein Werkzeug falsch eingesetzt werden kann, müssen wir nicht darauf verzichten, solange wir es korrekt verwenden.
Tipps zur zeitgemäßen Nutzung von Personas
Auch ohne Geschlechts- und Altersangaben können Personas aussagekräftig bleiben, wenn sie auf echten Daten basieren und wir uns bemühen, sie zum Leben zu erwecken. Ein paar Tipps dazu:
- Das Verhalten in den Mittelpunkt stellen: Konzentrieren Sie sich darauf, was die Persona im Zusammenhang mit dem geplanten Produkt tut. Stellen sie die Bedürfnisse und Erwartungen dar und beschreiben Sie, was die konkreten Handlungen der Persona sind.
- Psychografische Merkmale: Präsentieren Sie Motive, Werte und Vorlieben statt demografischer Variablen.
- Datenbasierte Validierung: Nutzen Sie unbedingt quantitative und qualitative Daten zur Erstellung und Aktualisierung Ihrer Personas. Personas, die nur auf Annahmen basieren, sind immer nur eine Notlösung („Proto-Personas“).
- Visuelle und narrative Elemente: Verwenden Sie Fotos aus Nutzungssituationen und erzählen Sie kurze Geschichten von diesen, um eine emotionale Verbindung zu den Personas zu ermöglichen, die ohne klassische demografische Marker auskommen.
Und: bevor Sie gar keine Personas mehr einsetzen, dann arbeiten Sie weiter mit Geschlecht, Alter und Fotos bei Ihren Personas. Denn aus meiner Sicht, ist das besser, als dieses wertvolle Werkzeug aus dem Koffer zu nehmen. Wenn es im Team Widerstände gibt, oder Sie selbst Bedenken haben, dann bleiben Sie bei der jahrzehntelang bewährten Methode, Personas zu erstellen. Seien Sie sich beim Anlegen einfach der Problematik bewusst, und versuchen Sie den Vorurteilen (die wir alle haben, bewusst und unbewusst) so weit wie möglich entgegenzuarbeiten.
Personas mit KI erstellen und nutzen
Ein interessanter Ansatz zum Thema Personas wird in den letzten Monaten mehr und mehr diskutiert: Die Nutzung von KI, um diese zu erstellen und zu nutzen.
Ich würde da zwischen zwei wichtigen Ansätzen unterscheiden:
- KI, um Personas zu erstellen.
- KI, um mit bestehenden Personas zu arbeiten.
KI als sprechende Persona
Zunächst zu Ansatz 2: KI übernimmt die Rolle einer von mir definierten Persona. Das kann hervorragend funktionieren. Wenn Sie fertige Personas haben, dann übergeben Sie diese Daten einer KI wie ChatGPT oder Claude, und bitten den Chatbot, sich in die Rolle dieser Persona zu versetzen. Dann können Sie ein Gespräch mit ihr führen.
Eine Gefahr sehe ich hierbei jedoch auch: Wer nicht weiß, wie KI funktioniert, der tappt leicht in die Falle der Vermenschlichung. Weil die modernen KIs sich so locker und natürlich mit uns unterhalten, nehmen wir ihre Antworten für bare Münze. Auch wenn uns völlig klar ist, dass KI haluzinieren können, also Antworten erfinden. Und, noch problematischer: KI sind so programmiert, dass sie uns tendenziell zustimmen, praktisch nie widersprechen und nichts hinterfragen. Fragen wir die KI, die eine Persona spielt, ob eine neue Funktion eine gute Idee ist, dann wird sie unsere noch so unbrauchbaren Ideen fast immer über den grünen Klee loben.
Erfahrene UX-Profis werden zwar nicht auf die Idee kommen, solche unsinnigen Fragen zu stellen. („Würden Sie diese Funktion nutzen?“ z.B. hat als Frage auch in einem Interview mit echten Menschen nichts verloren, weil sie hypothetisch und beeinflussend ist.) Aber die leichte Verfügbarkeit des Werkzeuges führt auch dazu, dass auch Menschen damit arbeiten, die keinen ausgeprägten Hintergrund in Nutzungsforschung haben.
Wenn ich noch gar keine Nutzungsforschung gemacht habe, also über meine Personas noch nicht viel weiß, dann kann eine Unterhaltung mit einer KI bestenfalls als Ideengeber dienen. Denn die KI hat auch keine Ahnung von meiner Zielgruppe. Sie ist aber sehr gern dabei behilflich, etwas zu erfinden. Damit sind wir wieder bei genau dem, wovon seit Jahrzehnten gewarnt wird bei der Persona-Erstellung: dem Erfinden von Wunschpersonas.
Synthetic Users: Kein Ersatz für echten Research
Nun zum Einsatzfall eins, dem Erstellen von Personas mit KI („Synthetic Users“). Einige machen das mit ChatGPT, es gibt aber spezialisierte Anbieter, die aber vermutlich alle nur angepasste Versionen eines Sprachmodells nutzen (https://www.syntheticusers.com, https://instantpersonas.com/).
Prinzipiell ist die Idee nicht verkehrt: In den LLMs (Large Language Models) wie ChatGPT sind Unmengen von Daten über Menschen enthalten. Es steckt also das Wissen über die Fragen, Sorgen, Bedürfnisse und Eigenschaften von uns allen darin. Da liegt es nahe, diese Daten zu nutzen, um super realistische Personas zu erzeugen. Es erscheint verlockend, aufwändige Nutzungsforschung durch eine kostengünstige und schnelle Methode zu ersetzen.
Das große Problem dabei: Die Informationen sind zwar Teil der LLMs, es ist aber nicht möglich, diese auszulesen wie aus einer Datenbank. Ein LLM ist eben kein gigantisches Research Repository, kein Archiv von Daten aus der Nutzungsforschung.
Ein LLM arbeitet immer mit Wahrscheinlichkeiten. Sehr vereinfach gesagt, vervollständigt es immer nur den Text, der schon da steht. Gebe ich ChatGPT z.B. den Satzanfang:
Alle Vögel fliegen…
dann bekomme ich in fast jedem Fall die Antwort:
…hoch!
Nicht in jedem Fall, denn damit es kreativ bleibt, haben LLMs eine Art Zufallsgenerator eingebaut. Aber man kann sagen, letztlich hangeln sich LLMs von einer Wahrscheinlichkeit zur nächsten. So sind sie in der Lage, generelle Aussagen zu treffen, allgemein Bekanntes gut zu beschreiben und das wiederzugeben, was „man“ so weiß.
Was damit immer herauskommt, ist eine Verallgemeinerung. Das müssen wir im Hinterkopf behalten, wenn wir LLMs nutzen, um Personas zu erstellen. Und: KI-generierte Personas können kaum anders als bestehende Vorurteile, die sich in den zugrunde liegenden Daten finden, zu übernehmen und zu verstärken. Die Gefahr ist groß, stereotype und diskriminierende Muster zu reproduzieren.
Je spezieller unsere Zielgruppe ist und je wichtiger es uns ist, inklusiv zu arbeiten, desto schwieriger wird es, KI sinnvoll einzusetzen. Es geht, aber wir müssen schon sehr genau wissen, was wir tun und unsere Prompts an das System sehr sorgfältig formulieren.
Wie bei einer Persona, die im Team entsteht, gilt bei einer, die mit KI entsteht: Je besser die Datenbasis, die ich in den Prozess hinein gebe, desto besser und aussagekräftiger wird das Ergebnis.
Echte Nutzerinterviews, ethnografische Studien und Benutzerumfragen gehen weit über Oberflächlichkeiten hinaus und ermöglichen ein tiefes Verständnis, das sich dann auch im Designprozess widerspiegelt.
Warum echter Research (derzeit) unersetzlich bleibt
KI-Tools sind sehr nützlich, um zu unterstützen, auch bei der Erstellung und der Arbeit mit Personas. Bei der Ausformulierung und Ausschmückung der Personas, beim Zusammenfassen und Aufbereiten der Daten sind KIs schon derzeit sehr hilfreich.
Und sie sind ein Werkzeug, sich mit der Zielgruppe schon mal theoretisch auseinanderzusetzen. Das ist besser als gar keine Auseinandersetzung mit der Zielgruppe. Und doch sollte es nur der Ausgangspunkt sein für echte Nutzungsforschung. Meine Sorge ist, dass dieser Schritt wegrationalisiert wird, mit dem Argument, die KI wisse das ja alles. Dann laufen wir Gefahr, Produkte zu entwickeln, die nur für generalisierte, weichgespülte Schein-Personas passen, die aber echte Menschen nicht ansprechen.
Halten wir uns an die Prinzipien menschenzentrierten Designs und kombinieren die besten Eigenschaften von Technologie und tiefgehender Nutzungsforschung, können wir sicherstellen, dass unsere Produkte wirklich gut werden, weil sie mit echten Menschen für echte Menschen konzipiert wurden.
Links
Persona Non Grata
Klassischer Artikel von Steve Portigal von 2008, der sein Unbehagen der Methode gegenüber gut auf den Punkt bringt.
Replacing Personas With Characters | by Alan Klement | down the rabbit hole | Medium
Großartiger Artikel, von Alan Klement, warum Personas mit Vorsicht zu genießen sind. Auch schon 10 Jahre alt, aber immer noch aktuell.
Challenging the Make-Believe in Personas | by Indi Young | Inclusive Software | Medium
Da muss man mal in Ruhe drüber nachdenken. Indi Young beschreibt, warum Personas vielleicht nicht so gut funktionieren. Auch dieser Beitrag hat ein paar Jahre auf dem Buckel, ist aber unbedingt lesenswert.
Introducing the person-oriented approach in UX Research | by Talieh Kazemi | UX Collective
Sehr schlauer Artikel für alle, die das Thema Personas schon kennen, und tiefer einsteigen wollen. Muss man sich mal eine Weile Zeit für den Text nehmen, das ist er aber definitiv wert.