Generationen gibt es nicht – Newsletter 9/2024

Millennials, also Menschen aus der Generation Y, können mit jedem technischen Gerät umgehen, nutzen sie aber hauptsächlich für Selfies und für Instagram. Personen der Generation Boomer sind technikfern, auf materielle Sicherheit bedacht und wissen gerade noch, wie man telefoniert; kompliziertere Technik können sie nicht bedienen. Solchen Klischees begegnet man ständig – nicht immer ganz so ausgeprägt, aber in diese Richtung geht es auch manchmal in an sich seriösen Marketing- und Beratungs-Artikeln.

Das Konzept der „Generationen“ wie Gen Z, Gen X oder Babyboomer ist in Medien und in öffentlichen Debatten weit verbreitet. Es scheint auch eine praktische Methode, sich den Zielgruppen für Websites und digitale Anwendungen zu nähern. Dabei hat es wie die meisten Verallgemeinerungen ein Problem: Es suggeriert, dass Menschen, die in bestimmten Zeiträumen geboren wurden, eine Reihe von Eigenschaften und Erfahrungen teilen. Erstaunlicherweise steht das ganze Prinzip wissenschaftlich gesehen auf ausgesprochen wackeligen Beinen. Es gibt kaum Forschung dazu und neuere Untersuchungen dazu zeigen, dass diese Kategorien sich kaum halten lassen – und dass sie vor allem auch wenig bringen.

Im Gegenteil, sie können in die Irre führen und dazu beitragen, dass Altersgruppen gegeneinander ausgespielt werden. Siehe dazu die Klischees der arbeitsscheuen Millennials und der engstirnigen Boomer.

Darstellung der Generationen und ihrer Jahrgänge
Definition der Generationen (von Von Cmglee, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=91612069)

Generationen sind keine gleichförmigen Gruppen

Wie der Soziologe Martin Schröder und die Organisationspsychologen Cort W. Rudolph und Hannes Zacher zeigen, gibt es kaum belastbare wissenschaftliche Beweise, die diese Generationeneinteilungen rechtfertigen. Stattdessen führen sie oft zu pauschalen Urteilen und Altersdiskriminierung. (Links am Ende des Beitrags)

Rudolph und Zacher belegen, dass das Konzept der Generationen zunehmend in die Kritik gerät und als veraltet angesehen wird. Sie fordern, das Konzept aufzugeben, da es keine nützlichen Einsichten bietet und eher zu Fehlschlüssen führt.

Junger Mensch mit Smartphone in der Hand
Das Klischee der Gen Z sagt, sie geben niemals ihr Smartphone aus der Hand. (Bildquelle: Unsplash)

Methodische Mängel und die Förderung von „Generationalismus“

Ein zentrales Argument der Forscher ist die methodische Unmöglichkeit, Generationseffekte von Alterseffekten oder historischen Einflüssen zu trennen. Diese methodischen Schwächen führen dazu, dass viele Studien, die Unterschiede zwischen Generationen behaupten, in Wirklichkeit andere Phänomene widerspiegeln.

Wenn wir also etwa herausfinden wollen, ob „Millennials“ wirklich anders arbeiten als „Babyboomer“, können wir eine Studie dazu machen. Wenn wir dabei einen Unterschied finden, könnte das daran liegen, dass Millennials jünger sind, und nicht daran, dass sie zu einer anderen Generation gehören. Oder daran, dass ihre wirtschaftliche Situation eine andere ist. Oder einfach daran, dass sie nicht in direkt vergleichbaren Jobs arbeiten. Klar ist: Es ist methodisch sehr schwierig, eine solche Studie wissenschaftlich sauber aufzusetzen. Daher hat das auch kaum noch jemand gemacht.

Ein weiteres Problem: Das Festhalten an Generationen als analytisches Konzept kann zu „Generationalismus“ führen, einer Form von Altersdiskriminierung („Ageismus“, was die Diskriminierung von jungen wie auch von älteren Menschen bezeichnet), der am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft schädlich ist​. Auch für die Produktentwicklung, die Konzeption und das Marketing ist das Generationenkonzept eine Krücke, die zwar häufig genutzt wird, aber nicht unbedingt vorteilhaft ist. Die Gefahr ist, dass wir lediglich in Stereotypen denken und unseren eigenen Vorurteilen folgen.

Die soziale Konstruktion von Generationen

Schröder und Rudolph betonen, dass Generationen vor allem soziale Konstruktionen sind, die geschaffen werden, um gesellschaftliche Veränderungen von Einstellungen der Menschen zu erklären. Diese Konstruktionen erscheinen nützlich, da sie komplexe Zusammenhänge leichter verständlich machen. Aber solche Vereinfachungen übersehen die Vielfalt der individuellen Lebenswege und die Tatsache, dass Menschen gleichen Alters in sehr unterschiedlichen sozialen Kontexten leben können.

Rudolph und seine Kollegen schlagen vor, das Altern und die Entwicklung von Menschen als fortlaufenden Prozess zu betrachten, der von vielen Faktoren beeinflusst wird, statt Menschen in starre Generationenkategorien einzuteilen.

Für die Zielgruppendefinition in digitalen Produkten bedeutet das, dass statt Alter oder Generation auf konkrete Lebensphasen und Erfahrungen der Nutzenden geschaut werden sollte. Beispielsweise könnten zwei Personen im Alter von 35 Jahren völlig unterschiedliche digitale Bedürfnisse haben – abhängig davon, ob sie z.B. gerade in Elternzeit sind, sich beruflich neu orientieren oder gerade eine neue Position angetreten haben. Diese Perspektive erlaubt es, digitale Produkte gezielter und individueller zu gestalten, indem wir die tatsächlichen Lebensumstände und Verhaltensweisen der Menschen berücksichtigen, anstatt sie lediglich in breite, wenig aussagekräftige Altersgruppen einzuordnen.

Kein Zusammenhang zwischen Alter und SUS-Ergebnissen

Untersuchungen, die der UX- und Statistik-Profi Jeff Sauro von MeasuringU analysiert hat, zeigen, dass das Alter der Teilnehmer keinen signifikanten Einfluss auf die Ergebnisse des System Usability Scale (SUS) hat. Diese Erkenntnis ist besonders relevant, wenn man bedenkt, dass im Bereich der User Experience (UX) häufig altersspezifische Unterschiede vermutet werden. Die Studien belegen jedoch, dass das Alter in diesem Zusammenhang keine signifikante Rolle spielt.

Was ist überhaupt „alt“?

Jakob Nielsen, der bekannte Usability-Experte, definiert „alte“ Nutzende als Menschen über 75 Jahre. Ab diesem Alter zeigen die meisten deutliche altersbedingte Symptome wie ein schwächeres Gedächtnis oder eingeschränkte Motorik. Diese Definition ist sinnvoller als die verbreitete Annahme, dass jemand mit 55 Jahren schon als „alt“ gilt – was ich oft von meinen Studierenden höre. Sie neigen dazu, die Zielgruppe „alle Internetnutzende“ beim Alter von 55 abzuschneiden. Was Millionen von Menschen als potenzielle Kunden ausschließt und auch ein Problem der gesellschaftlichen Teilhabe ist.

Die Grenze von 75 Jahren ist natürlich auch willkürlich – aber sie berücksichtigt die tatsächlichen kognitiven und physischen Veränderungen, die im hohen Alter auftreten. Bei manchen setzen diese früher ein, bei anderen später. Aber mit 55 haben die meisten Menschen lediglich Altersweitsichtigkeit, die sich leicht mit einer Brille ausgleichen lässt.

Die Wahrnehmung von Alter und Technikkompetenz

Wir neigen dazu, ältere Menschen als technikfern einzustufen. Das machen interessanterweise auch mache 75-jährige, die meinen, andere ihres Alters wären in der digitalen Welt überhaupt nicht zu Hause. Doch das ist immer weniger der Fall: Die Nutzung von Technologie nimmt bei älteren Menschen seit Jahren erheblich zu. 61 Prozent der über 65-jährigen in den USA besitzen ein Smartphone, und ihre Nutzung von sozialen Medien hat sich seit 2010 vervierfacht. Nicht alle Senioren haben ein Seniorentelefon, und viele wollen das auch nicht. Ähnlich wie ich Menschen mit Behinderung nicht vorschreiben sollte, wie sie Technologie nutzen sollten, sollte ich das auch mit Älteren nicht tun.

Älterer Mann, der mit dem Smarphone fotografiert
Der Beweis: Auch Menschen über 55 nutzen Smartphones. (Bildquelle: Unsplash)

Vorschläge zur Persona-Erstellung

Um Altersdiskriminierung konkret bei der Erstellung von Personas zu vermeiden, sollten Personas nicht allein auf dem Alter basieren, sondern vielmehr auf spezifischen digitalen Fähigkeiten und Bedürfnissen. Personas könnten zum Beispiel technikaffine Senioren ebenso umfassen wie jüngere, weniger technikaffine Nutzende. So entsteht ein differenzierteres und realitätsnäheres Bild der Zielgruppen, das auf tatsächlichen Verhaltensmustern und nicht auf vorgefertigten Altersklischees beruht​. Oder man lässt das Alter ganz heraus aus der Personabeschreibung, weil es oft schlicht keine Rolle spielt.

Der Soziologe Schröder betont, dass nicht nur Alterskategorisierungen, sondern auch andere soziale Markierungen, wie Geschlecht und Ethnie, differenzierter betrachtet werden sollten. Wichtig ist, dass Personas nicht zu stark auf das Alter fokussieren, sondern auf spezifische Verhaltensweisen und Bedürfnisse, die durch Nutzungsforschung ermittelt werden.

Fazit

Die Einteilung in Generationen mag auf den ersten Blick praktisch erscheinen, doch sie greift oft zu kurz und führt zu pauschalen Urteilen, die der Realität nicht gerecht werden. Beim Festlegen der Zielgruppen für digitale Produkte sollten wir uns von solchen Stereotypen lösen und besser fundierte, differenzierte Daten nutzen, um Altersdiskriminierung zu vermeiden und effektivere, realistischere Personas zu entwickeln. Ein wichtiger Startpunkt dafür ist, weniger von demographischen Merkmalen auszugehen als bisher. Stattdessen sollten wir die Bedürfnisse der Menschen, deren soziales Umfeld und ihre sozioökonomische Situation in den Blick nehmen. Auch kulturelle und regionale Unterschiede sind wichtiger als Generationenlabels und Stereotypen.

Links

Martin Schröder – Warum es keine Generationen gibt
Sehr gut zu lesender, fundierter Artikel. Wer nur einen liest, sollte den nehmen. Schröder führt noch einen Grund an, warum sich das Konzept der Generationen so hartnäckig hält: Es verdienen einige Unternehmen und Personen viel Geld damit, dazu Studien zu machen und Vorträge zu halten.

Cort W. Rudolph et al. – Generations and Generational Differences: Debunking Myths in Organizational Science and Practice, ganzer Artikel frei zugänglich
Schwerpunkt ist hier die Managementlehre, also die praktische Anwendung in Unternehmen. Der Artikel ist aber unbedingt auch lohnend für alle, die ihre Zielgruppen mit Generationen definieren möchten. Die Autoren nennen 10 Gründe, warum das keine gute Idee ist und geben uns Alternativen an die Hand.

Are Opt-In Online Panels Too Inaccurate? Im Abschnitt „UX Metrics Are Usually Not Affected by Common Demographic Variables“ zitiert Jeff Sauro mehrere Studien, die zeigen, dass es keinen statistisch signifikanten Einfluss des Alters gibt auf den System Usability Scale (SUS). Diese Kennzahl gibt an, wie schwer Menschen eine Aufgabe empfinden, die sie z.B. mit einer Website oder einer App erledigen sollten.

How Pew Research Center will report on generations
Das Pew Research Center ist eine US-Amerikanische Institution, die sehr nützliche, gute Studien zum Verhalten von Menschen (vorwiegend amerikanischen) durchführt. Sie haben sich vom Konzept der Generationen weitgehend verabschiedet und erklären hier, warum.

Share of tech users among Americans 65 and older grew in past decade
Studie von 2022 des Pew Research Center. Den weitaus stärksten Anstieg in der Nutzung von Technologie sieht man bei den über 65-jährigen.

Generational marketing explained
Beschreibung der Generationen, wie sie im Marketing üblich ist.

Wikipedia-Artikel zum Begriff Generation, der leider nicht auf die einzelnen lesenswerten Artikel zu den Generationen verlinkt wie Generation Z.

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