Newsletter 01/2013 – Neuromarketing – Gedankenlesen 2.0?

Die Gedanken anderer Menschen lesen können – das ist seit Menschengedenken ein verlockender Gedanke. Besonders natürlich für Menschen, die Marketing machen. Seitdem Forscher mit Hilfe von Kernspintomografen und anderen Geräten in unsere Köpfe blicken können, scheint man diesem Traum näher gekommen zu sein. Daher erfreut sich in den letzten Jahren das Neuromarketing immer größerer Beliebtheit.

Für manche klingt der Begriff Neuromarketing vielleicht unethisch. Aber so einfach ist das mit dem Gedankenlesen sowieso nicht – und erst recht nicht mit der Manipulation. Die meiste Manipulation unserer Gedanken machen wir selbst, den Rest erledigt unser gesellschaftliches Umfeld – und der Werbung fällt nur ein winziger Anteil daran zu.

In vielen Fällen ist das, was heute als Neuromarketing verkauft wird, nur geschicktes Marketing für jahrzehnte-, ja jahrhundertealtes Wissen darüber, wie man sich oder Dinge gut verkauft. Aber spannend ist es allemal.

Was ist Neuromarketing?

Unter den Begriff Neuromarketing wird heute sehr viel gefasst, so dass der Begriff recht unklar ist. Klar ist, es ist ein Teilgebiet des Marketing, der neurologische, neurophysiologische und psychologische Verfahren einsetzt, um den (potenziellen) Käufer besser zu verstehen.

Häufig kommen dabei bildgebende Verfahren wie Computer- und Kernspin-Tomografie zum Einsatz. Sie ermöglichen es, dem Menschen beim Denken – und Fühlen – zuzusehen. Was man sieht, sind allerdings erst einmal nur bunte Bilder. Sie zeigen, welche Gehirnregionen jeweils gerade aktiv sind.

Jede seriöse Interpretation muss die Statistik bemühen. Und die kann nicht unterscheiden zwischen Gleichzeitigkeit und Ursache (Koinzidenz und Kausalität). Das heißt, man sieht zum Beispiel, dass bei der Mehrzahl der Untersuchten ein bestimmter Bereich des Hirns aktiv ist, wenn man ihm ein Foto seines Partners zeigt. Was aber genau diese Aktivität bedeutet, darüber verraten weder die Bilder noch die Statistik etwas.

Aufnahme Kernspintomografie Fuß
Kernspintomografie zeigt zunächst nur Strukturen. Eine Aussage über Funktionen ist weder bei Füßen noch bei Hirnen ohne Weiteres möglich.

Cola im Kernspintomografen

Ein klassischer Kernspintomograf (= Magnetresonanztomograf) zeigt zunächst nur Strukturen wie im Bild des Fußes oben. Die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) dagegen kann zusätzlich zeigen, welche Bereiche gerade stärker durchblutet und somit aktiv sind. Daher untersucht man damit auch häufiger Hirne, nicht Füße.

Manchmal liest man auch von functional magnetic resonance imaging (fMRI), was letztlich das Gleiche ist wie fMRT. Wie auch immer die Geräte genannt werden, sie werden im Neuromarketing eingesetzt.

Zum Beispiel für den Pepsi-Test, einer der Klassiker des Marketing. Bei Blindverkostungen schneidet Pepsi-Cola regelmäßig besser ab als Coca-Cola. Und doch verkauft sich Coca-Cola seit Jahrzehnten besser. Read Montague vom Baylor College of Medicine (USA) hat Probanden im (funktionellen) Kernspintomografen beide Limos zu trinken gegeben – bekamen die Probanden Pepsi, leuchtete bei ihnen die Gehirnregion stärker, die von Forschern „Belohnungszentrum“ genannt wird.

Zeigte er den Probanden dagegen die Marke (also die Cola-Dose), leuchtete bei den Coke-Probanden die Gehirnregion stärker, die für das Selbstbild zuständig ist. Das heißt, der Erfolg von Coca-Cola liegt in den Assoziationen, die wir mit der Marke haben, nicht im Geschmack.

Die Veröffentlichung dieser Studie 2003 gilt manchen als Beginn des „Neuromarketing“. Die Hersteller der extrem teuren Computertomografen hatten damit auf einmal eine neue Kundengruppe erschlossen: Marketing-Experten.
Das Problem der Hirnforscher bei ihrem Einsatz als Marketing-Experten: Sie können nur Aktivitäten messen und müssen diese dann interpretieren. Oft kann man aber nur sagen, dass es eine Reaktion in einer Gehirnregion gibt, aber nicht, ob sie positiv oder negativ ist. Nur anhand eines Bildes aus dem Kernspintomografen kann man kaum sagen, ob eine Person gerade lacht oder weint.

Derzeit belegen die Ergebnisse der Gehirnforschung nur das, was die Markforschung herausgefunden hat: Dass etwa die Wahrnehmung von Marken physiologische Reaktionen „überstimmen“ kann. Wir hören also nicht auf unseren Geschmacksinn, sondern auf unser Gehirn – wobei das unbewusst abläuft.

Einkaufen mit Autopilot

Was die Hirnforschung aber deutlich belegt: Wir entscheiden nicht rational.
Hier kommt die Disziplin zusammen mit evolutionären Psychologen wie Geoffrey Miller (siehe mein Beitrag Warum wir kaufen, was wir kaufen).

Nach Schätzungen mancher Hirnforscher fällen wir 95 Prozent unserer Entscheidungen mit „Autopilot“. Das heißt, diese Entscheidungen fallen in Bereichen des Gehirns, der nach nicht-bewusstem, auf Stereotypen, Automatismen und Vorurteilen basierenden Regeln arbeitet. Nur 5 Prozent unserer Entscheidungen sind demnach rational in dem Sinne, wie wir das Wort meist gebrauchen.

Das ist nicht etwa dumm, sondern effizient. In den meisten Fällen fahren wir mit solchen Automatismen gut – weshalb sich das evolutionär auch so durchgesetzt hat. Haben wir immer wieder gute Erfahrungen mit einer Frucht gemacht, die wir im Wald gepflückt haben, dann bevorzugen wir eine solche Frucht auch beim nächsten Mal wieder. Und nach dem gleichen Prinzip funktionieren Marken.

Seriöse Wissenschaftler sehen aber weder den gläsernen Käufer noch eine Revolution des Markeing: Der „Neuroökonom“ Peter Kenning etwa schreibt:

Insgesamt zeigt sich, dass die Integration neurowissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse in die Marketingforschung keinen revolutionären Angriff auf bestehende, etablierte Ansätze darstellt, sondern vielmehr eine fruchtbare Weiterentwicklung ihrer Methoden zur Untersuchung des Konsumentenverhaltens bildet.

Ohne Emotionen keine Entscheidungen

Der Neurologe António Damásio berichtete von Patienten mit Hirnverletzung im Bereich, der für Emotionen verantwortlich ist. Diese sind nicht nur emotionslos, sondern offenbar unfähig, Entscheidungen zu treffen.

Das Hirn scheint also Emotionen als Entscheidungskriterium zu brauchen. Diese entstehen, indem alle verfügbaren Informationen – zu denen auch Erinnerungen und Gefühle gehören – verarbeitet werden.

Marken werden von Neuromarketern als „Abkürzung“ des Gehirns interpretiert: Um Entscheidungen, die manchmal sehr schnell getroffen werden müssen, zu erleichtern, verknüpft das Gehirn Signale mit Emotionen. Ein dunkler Schatten, der brüllend aus dem Gebüsch springt, wird mit Bedrohung verknüpft – ein Überlebensvorteil. Und genau diesen Mechanismus nutzt das Branding aus: Marken werden mit Emotionen verknüpft – allerdings sind das meistens eher positive und haben nichts mit brüllenden Säbelzahntigern zu tun.

Kostenlos ist unwiderstehlich

Colleen Rollers Artikel, in dem sie beschreibt, warum wir kostenlosen Angeboten kaum widerstehen können, hatte ich im benutzerfreun.de-Blog schon empfohlen. Die Schlüsselaussage ist für mich in diesem Zusammenhang die: Bei „kostenlos” können wir nichts falsch machen, deshalb schlagen wir zu.
Genauso wie wir das Produkt kaufen, das mehr Funktionen hat – ob wir die nun brauchen oder nicht.

Das gilt auch für Apple-Kunden. Die kaufen die Produkte, welche die „Funktion“ haben, einfacher zu bedienen zu sein – sie haben nicht weniger Funktionen. Und selbst wenn ein Apple-Produkt im Einzelfall einmal weniger Funktionen haben sollte, können deren Käufer immer noch sicher sein, dass sie mit diesem signalisieren, dass sie so schlau sind, besser bedienbare Produkte zu erkennen und ganz rational das auswählen, was besser ist – nicht etwa das, was mehr Funktionen hat.

Illustration Bereiche des menschlichen Gehirns
Vereinfachte Vorstellungen vom menschlichen Hirn sind nichts Neues.

Fazit

Letztlich gibt es mindestens drei Disziplinen, die einen ähnlichen Weg verfolgen, nur mit unterschiedlichen Mitteln:

  • Evolutionäre Psychologie
  • Neuromarketing
  • User Experience

Bei allen dreien versucht man (unter anderem) zu verstehen, wie die Entscheidungen eines potenziellen Käufers ablaufen. Einig sind sich Vertreter aller drei Richtungen, dass wir nicht vollkommen rational handeln, auch wenn wir das oft glauben.

Zu hitzigen Debatten führt immer noch die Beobachtung, dass Entscheidungen im Hirn bis zu zehn Sekunden vorher sichtbar sind, bevor diese Entscheidung uns bewusst ist.

Nicht schrecken lassen sollte man sich vom Schreckbild des huxley-schen Gläsernen Konsumenten – zu wenig versteht man immer noch davon, wie wir wirklich ticken. Und die Manipulation unserer Entscheidungen wird durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften auch nicht viel leichter.

Vor allem aber glauben Sie nicht jeden vermeintlich wissenschaftlichen Ansatz – oft werden nur Alltagswahrheiten und vermeintliche Erfolgsrezepte neu verpackt, um sie einem Trend anzupassen. Teure Geräte schützen nicht vor billigen Tricks.

Und Fehlinterpretationen oder Überinterpretationen sind auch in der Wissenschaft in der Tagesordnung.

Sehen Sie Neuromarketing eher als Gelegenheit, etwas über sich selbst zu lernen und darüber, wie die Marketingwelt funktioniert. Ein paar Schlussfolgerungen für die Praxis beschreibe ich im nächsten Newsletter, bis dahin empfehle ich Ihnen die folgenden Links:

Links

http://de.wikipedia.org/wiki/António_Damásio
Sehr lesenswert: Die Forschungen des Neurowissenschaftlers António Damásio

www.envia.ch/pdf/script_r-schnider_va_cas-1_final.pdf
Roger Schnider: Neuromarketing – Nutzen und Potenzial im E-Commerce. Die Entdeckung des Einflussfaktors Mensch (Vertiefungsarbeit FHS St. Gallen). Zusammenfassung des Forschungsstands auf 37 Seiten.

www.nature.com/news/2011/110831/full/477023a.html
Der hervorragende Artikel „Neuroscience vs philosophy: Taking aim at free will“, in dem die Kontroverse um die Existenz des Freien Willens gut beschrieben ist.

2 Gedanken zu „Newsletter 01/2013 – Neuromarketing – Gedankenlesen 2.0?“

  1. Vielen Dank für den Artikel, Jens! Genau wie Du schreibst, gibt es ja bereits eine ganze Reihe psychologischer und neurowissenschaftlicher Effekte und Prinzipien, die sich schon sehr gut für die Interface-Gestaltung nutzen lassen.

    Das Besondere bei digitalen Produkten und Services ist dann natürlich, dass wir es immer von Beginn an mit ziemlich komplexen Interaktionsstrecken zu tun haben. Und natürlich spielen auch auf Seiten der Nutzer noch diverse weitere Faktoren, wie beispielsweise Erwartungen und Heuristiken eine Rolle.

    Aus meiner Sicht ist es daher schon heute absolut erforderlich, für das Unterbewusstsein zu gestalten und Interfaces anzulegen, dass sie auch indirekte und implizite Faktoren, wie Du sie nennst, optimal anspielen. Wie bei eparo sprechen daher von Implicit UX. Bei Interesse: Gerne auch hier mal vorbeilesen: http://www.53nord.de/category/implicit-ux.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar