Kennen Sie das? Man will schnell noch den Einkauf erledigen und steht im Supermarkt vor dem Müsliregal und greift unwillkürlich zu dem Produkt mit der am schönsten angerichteten Müslischale auf der Verpackung. Oder wir stehen in der überfüllten Straßenbahn, sind kurz vor dem Ziel und klicken auf der Suche nach einem bestimmten Button einfach das erstbeste Element an, das ungefähr passt. In beiden Fällen nutzen wir sogenannte Heuristiken – mentale Abkürzungen, die uns das Leben leichter machen. Solche Abkürzungen nutzt unser Gehirn ständig, um in einer komplexen Welt zurechtzukommen. Das war früher ein Überlebensvorteil: Wer in der Savanne lang überlegt hat, ob dieses Fauchen im Gebüsch wirklich ein Löwe ist, oder ob es nicht andere Erklärungen dafür geben könnte, der hat nicht lange überlebt.
In der UX-Welt kennen wir Heuristiken heute vor allem als Prüflisten. Die bekanntesten sind wohl Nielsens 10 Heuristiken, die seit Jahrzehnten als Grundlage für gutes UX-Design dienen. Aber Heuristiken sind viel mehr als das: Sie sind die Art und Weise, wie Menschen tatsächlich denken und entscheiden.
Schnelles Denken, langsames Denken – und falsche Entscheidungen
Der Psychologe Daniel Kahneman bekam 2002 den Wirtschaftsnobelpreis für seine Arbeiten zu diesem Thema. Er unterscheidet zwischen „schnellem“ und „langsamem“ Denken. Das schnelle Denken – unsere Heuristiken – hilft uns, blitzschnell Situationen einzuschätzen und Entscheidungen zu treffen. Das ist überlebenswichtig in einer Welt, in der ständig Informationen auf uns einprasseln. Heuristiken sind eine Möglichkeit, mit den aktuell vorliegenden Informationen eine Entscheidung zu treffen, die in den meisten Fällen richtig ist. Aber diese mentalen Abkürzungen führen auch in die Irre. Wir folgen dabei Vorurteilen, Klischees und Wahrscheinlichkeiten – nicht kluger Abwägung. Und doch nutzen wir diese Heuristiken ständig, weil wir damit Energie sparen und schnell entscheiden können. Und für gutes UX-Design sollten wir die Heuristiken kennen und entsprechend berücksichtigen. Auch ganz wichtig: Selbst wenn wir diese Heurisiken kennen, sind wir trotzdem ihren Effekten unterworfen, das ist ganz tief in unseren Hirnen verankert. Sehen wir uns also die wichtigsten Heuristiken an:
Verlustaversion: Bloß nichts hergeben
Der Schmerz des Verlierens wiegt doppelt so schwer wie die Freude des Gewinnens. Das zeigt sich etwa bei kostenlosen Probeabos: Haben wir einen Dienst erst einmal genutzt, fällt es uns schwer, ihn wieder aufzugeben – selbst wenn wir dafür zahlen müssen. Oder wenn wir einen Warenkorb gefüllt haben: Der Gedanke, die Produkte wieder „zu verlieren“, macht es uns schwer abzubrechen. Natürlich können wir das bewusst übersteuern, aber eine kleine gedankliche Hürde müssen wir dabei dennoch nehmen.
Satisficing: OK ist gut genug
Statt die beste Lösung zu suchen, klicken wir auf den ersten Link, der halbwegs passt. Das erklärt, warum viele Nutzende fast nie das ganze Menü ansehen – sie nehmen die erste Option, die einigermaßen zu passen scheint. (Das Wort „satisficing“ setzt sich zusammen aus „satisfy“ – befriedigen – und „suffice“ – ausreichend.)
Knappheitsprinzip: Selten lockt besonders
Was knapp ist, muss wertvoll sein – so denken wir automatisch. Das erklärt, warum „Nur noch 2 Artikel verfügbar!“ oder „Angebot endet in 10 Minuten“ so wirksam sind. Unter Zeitdruck greifen wir besonders stark auf schnelles, heuristisches Denken zurück – oft zu unserem Nachteil. Auf Englisch heißt diese Heuristik scarcity; eng verwandt damit ist fear of missing out (FOMO – die Angst, etwas zu verpassen).
Verfügbarkeitsverzerrung: Das Naheliegende zählt
Informationen, die leicht verfügbar oder auffällig sind, beeinflussen unsere Entscheidungen mehr. Kriterien, die uns als erste einfallen oder die wir als erste sehen, gewichten wir stärker.
Ankereffekt: Alles ist relativ
Wir tun uns schwer, Dinge absolut zu beurteilen, daher vergleichen wir meist. Daher sind Gegenüberstellungen von Varianten so hilfreich. Und daher beeinflusst, was wir als Erstes sehen, alles, was wir danach sehen – das ist der Anker (im Englischen spricht man vom anchoring effect). Lesen wir zuerst eine sehr hohe Zahl, steigt unsere Bereitschaft, mehr Geld auszugeben, im Vergleich damit, wenn wir zuerst eine niedrige Zahl lesen. Bizarrerweise ist das sogar so, wenn die erste Zahl gar nichts mit den nachfolgenden zu tun hat, wenn z.B. zuerst die Wassertemperatur im Pool genannt wird und danach der Zimmerpreis.
Status-quo-Verzerrung: Bekanntes beruhigt
Nutzer bevorzugen den aktuellen Zustand und vermeiden Veränderungen. Das erklärt, warum selbst schlechte Standardeinstellungen oft beibehalten werden und warum Interface-Änderungen häufig auf Ablehnung stoßen – selbst wenn sie objektiv besser sind.
Bestätigungsfehler: Wir sehen, was wir erwarten
Menschen suchen unbewusst nach Informationen, die bestätigen, was sie wissen bzw. glauben. Unsere Wahrnehmung funktioniert dabei wie ein Filter. Daher ist es viel schwerer, Menschen von einer Überzeugung abzubringen, als sie für eine völlig neue Idee zu begeistern.
Hick’sches Gesetz: Länger dauert länger
Je mehr Optionen wir haben, desto länger dauert unsere Entscheidung und desto anstrengender empfinden wir sie. Ein überladenes Menü kann also eher verwirren als helfen. Eng verwandt damit ist der nächste Punkt:
Entscheidungsmüdigkeit: Zu viele Optionen lähmen
Nach dem dritten Cookie-Banner und der fünften Dropdown-Liste klicken wir einfach irgendwas an. Je mehr Entscheidungen wir treffen müssen, desto schlechter werden sie. Das erklärt übrigens auch, warum Steve Jobs immer den gleichen Pullover trug. Er wollte seine mentale Kapazität nicht dafür verwenden, um morgens zu entscheiden, welches Outfit er tragen sollte. Englisch heißt diese Heuristik decision fatigue.
Dark Patterns & die dunkle Seite der Heuristiken
Wenn wir unsere Seiten, Apps, Navigationssysteme, Menüs und Handlungsaufforderungen gestalten, dann müssen wir die menschlichen Heuristiken kennen, um diese richtig gut zu machen. Wenn man die Heuristiken aber ausnutzt, um die Menschen zu Entscheidungen zu bewegen, die sie nicht treffen wollen, dann spricht man von Dark Patterns. Der schmale Grat zwischen „Nutzenden helfen“ und „Nutzende manipulieren“ ist oft schwer zu erkennen. Wenn wir wissen, dass Menschen unter Zeitdruck schlechtere Entscheidungen treffen, ist es da in Ordnung, einen Countdown-Timer einzubauen? Oder die Menüs so lang zu machen, dass sie irgendwann erschöpft aufgeben?
Andere Muster sind dagegen klar unethisch: Der Button für die von Nutzenden gewünschte Option ist klein und mit geringem Kontrast gestaltet – der Button für die Option, die die Betreibenden der Site wollen, dagegen ist groß und auffällig.
Es gibt übrigens viele weitere Dark Patterns, die nicht Heuristiken ausnutzen, sondern mit anderen Tricks arbeiten – aber das ist Thema für ein nächstes Mal.
Was bedeutet das fürs Design?
Beim Design haben wir die Verantwortung, unsere Kenntnisse über Heuristiken zum Wohle der Nutzenden einzusetzen. Statt sie in die Irre zu führen, sollten wir ihnen helfen, ihre Ziele effizient und zufriedenstellend zu erreichen. Die Kunst guten Designs liegt dabei darin, mit diesen mentalen Abkürzungen zu arbeiten, statt gegen sie. Das heißt z.B.:
- Wichtige Entscheidungen früh platzieren, wenn die mentale Energie noch hoch ist
- Klare Hierarchien schaffen, damit das „schnelle Denken“ die richtigen Schlüsse zieht
- Voreinstellungen clever setzen – die meisten Menschen bleiben dabei
- Komplexe Entscheidungen in verdauliche Häppchen aufteilen
Aber vor allem bedeutet es, ehrlich zu sein: Nutzen wir Heuristiken, um Menschen zu helfen oder um sie zu manipulieren? Es geht darum, das „schnelle Denken“ der Menschen zu respektieren und gleichzeitig Raum für überlegtes, langsames Denken zu lassen – da, wo es nötig ist. Denn manchmal braucht es eben doch mehr als eine mentale Abkürzung, um ans Ziel zu kommen.
Und bei unserer eigenen Nutzung und unseren Konsumentscheidungen haben wir natürlich auch immer zumindest teilweise in der Hand, wie wir uns entscheiden. Beim nächsten Mal vor dem Müsliregal können wir uns kurz Zeit nehmen für das „langsame Denken“. Oder wir greifen doch einfach zur Packung mit dem besten Foto auf der Verpackung – auch das ist manchmal völlig in Ordnung.
Hallo Jens, danke für die gute Übersicht! Zur Verlust-Aversion eine Anmerkung: Ich verlasse gefüllte Warenkörbe und andere gefüllte Formulare deshalb ungern, weil ich die Arbeitsleistung nicht verlieren will, die ich bereits investiert habe. Also nicht, weil ich die Waren nicht verlieren will, sondern weil ich die Arbeit nicht verlieren will, die es gekostet hat, die Waren zu finden und auszuwählen. Und Ärger spüre ich, wenn ein Website-Betreiber die Arbeit, die ich bereits hatte mit seiner Schnittstelle, nicht wertschätzt, sondern mit einem falschen Klick ungeschehen macht.
Die Ok-ist-gut-genug-Regel verwende ich ganz bewusst bei Speisekarten. Sobald ich ein Gericht sehe, auf das ich Appetit habe, entscheide ich mich dafür und lese nicht weiter. Das erspart mir lange Entscheidungsprozesse. Aber die konkurriert mit der Angst, etwas (vielleicht Besseres) zu verpassen. Die Regeln hauen also nicht immer in die gleiche Kerbe. Man kann sie gegeneinander ausspielen.
Danke für die Ergänzungen, leuchten mir ein. Der Praxistipp für die Speisekarte ist super!