KI ist kalter Kaffee. Sie begleitet uns seit Jahren, und doch wird 2024 für viele als das Jahr in Erinnerung bleiben, in dem KI im Massenmarkt angekommen ist. Erst im vergangenen Jahr wurde vor allem dank der großen Sprachmodelle (LLMs) ChatGPT und Claude vielen klar, was KI kann. Das ist aus meiner Sicht ein klassisches UX-Thema: Bildgenerierung mit KI war auch in den vorigen Jahren viel in der Berichterstattung, und letztes Jahr haben die großen Fortschritte bei der Videoerzeugung für noch mehr Wow-Effekte gesorgt. Vor allem aber war entscheidend, dass die Sprachmodelle so leicht zugänglich sind. Sie bieten ein vertrautes Chat-Interface und die Möglichkeit, jedes noch so exotische oder triviale Thema mit ihnen zu besprechen. Da muss man nichts neu lernen, um das zu bedienen. Diese einfache Nutzeroberfläche hat die Hürde so niedrig gemacht, dass alle, die nur ein vages Interesse hatten, erste eigene Erfahrungen mit KI gemacht haben.

Gleich, ob Sie persönlich enttäuscht sind, ob Sie begeistert sind oder etwas mittendrin: KI wird das Web gründlich umkrempeln. Im Jahr 2025 werden wir große Veränderungen sehen, da bin ich mir ganz sicher – selbst, wenn die KIs wider Erwarten im kommenden Jahr keinerlei Fortschritte machen sollten. Warum ich mir so sicher bin? Ich habe mich die letzten drei Monate jeden Tag viele Stunden mit KI beschäftigt. Ich bin gerade beim Schreiben der letzten Seiten meines neuen Buchs, das in wenigen Wochen erscheint: Websites entwickeln mit KI. Dazu habe ich mit vielen Menschen gesprochen – von einer Schülerin, die in der Schülerzeitung einen Artikel zu KI geschrieben hat, über Studierende, die KI in ihren Haus- und Projektarbeiten einsetzen bis hin zu Fachleuten, die sich seit Jahren mit dem Thema befassen. Ich habe Profis aus den Bereichen Design, Programmierung, Marketing, Texten, User Experience und Usability interviewt. Und aus den Bereichen technische Redaktion, Übersetzung, Videoproduktion, Musik, Drehbucherstellung und Lehre. Heute will ich weitergeben, was mich dabei am meisten erstaunt hat und welche Werkzeuge ich Ihnen ans Herz lege, weil sie so unglaublich nützlich sind. Vor allem aber will ich Ihnen verraten, was aus meiner Sicht für uns im Bereich Website-Konzeption, Design und UX für das nächste Jahr entscheidend ist.
1) Websuche ändert sich radikal
KI-Tools sind aus der experimentellen Phase herausgetreten und für einige bereits zu alltäglichen Begleitern geworden. Diese Entwicklung wird sich 2025 noch verstärken und grundlegende Veränderungen in der Art und Weise mit sich bringen, wie wir das Internet nutzen und erleben. Wie eine junge Berufseinsteigerin im Bereich Architektur es formulierte:
Ich kann mir ein Leben ohne KI gar nicht mehr vorstellen.
Interessanterweise nutzt sie KI noch nicht für Gestaltung oder Entwurf. Sie nutzt es vor allem in der Form von ChatGPT als Beraterin, Ideengeberin und Recherchewerkzeug. Sie meinte, mit Google hätte sie schon seit Monaten nichts mehr recherchiert. Und damit ist sie nicht allein. Nachdem Bequemlichkeit im Internet schon immer einer der Haupt-Treiber für Veränderungen war, bin ich mir sicher, dass diese Veränderung schon bald praktisch alle Menschen erfasst. Denn wenn ich meine Frage an ChatGPT oder Claude gebe, dann kommt eine Antwort zurück, die meist genau der Länge entspricht, die für mich passt. Ist sie ein bisschen zu lang, kann ich das schnell überfliegen. Will ich mehr wissen, kann ich nachfragen. Und die Qualität der Sprache und die Aufbereitung der Informationen sind immer professionell. Ich muss mich nicht durch einen langen Wikipedia-Artikel oder eine andere fachlich sehr gute, aber komplizierte oder weitschweifige Quelle arbeiten, sondern bekomme direkt das Detail geliefert, das mich interessiert. Angepasst auf meine Sprache, mein Niveau, meinen Standort und meine Bedürfnisse.

Dass die Information falsch sein kann, spielt manchmal kaum eine Rolle – und wenn doch, kann ich mir die Quellen (zumindest bei den Sprachmodellen mit Webzugriff) angeben lassen und die Fakten dort direkt überprüfen. Ich vermute aber, dass es den meisten sowieso egal ist – nach dem, was ich in ungezählten Usabilitytests gelernt habe, als ich Menschen beim Nutzen des Internets zugesehen habe.
Folgen für uns
Das hat für uns alle, die wir Websites betreiben, konzipieren oder gestalten, natürlich gravierende Folgen. Es bedeutet, immer weniger Menschen bekommen unsere Seiten zu Gesicht. Immer mehr Nutzende werden ihre Informationen in Zukunft über KI-Assistenten beziehen, die Inhalte unserer Webseiten für sie analysieren, zusammenfassen und neu aufbereiten. Damit stehen wir vor einer fundamentalen Herausforderung: Wie können wir sicherstellen, dass unsere Inhalte sowohl weiterhin von klassischen Suchmaschinen als auch von KI-Systemen optimal gefunden, indexiert und vor allem auch weitergegeben werden? Bisher war SEO (Search Engine Optimization, Suchmaschinenoptimierung) vor allem darauf ausgerichtet, in den Trefferlisten der Suchmaschinen so weit oben wie möglich zu erscheinen. Künftig kommt es darauf an, dass wir unsere Inhalte so aufbereiten, dass KIs sie einfach abrufen, verstehen und in ihre Antworten einbinden können. Das erfordert präzise, gut strukturierte Texte und klar ausgezeichnete Informationen. Eventuell etwas helfen kann dabei eine saubere Seitenstruktur mit Meta-Tags (wie sie schon für Suchmaschinen hilfreich war) und eventuell zusätzlich noch Anwendung von einer strukturierten Auszeichnung, etwa mit Schema.org. Das ist ein wenig zusätzlicher Code auf den Seiten, der es Suchmaschinen und KI-Modellen erlaubt, Inhalte eindeutig zu identifizieren und gezielt auszuwerten. Schema.org bietet dazu vorgefertigte Vokabulare, um zum Beispiel Personen, Produkte, Rezepte oder Veranstaltungen maschinenlesbar zu beschreiben. KIs können Inhalte zwar selbstständig analysieren, aber eine strukturierte Auszeichnung mit Schema.org liefert ihnen klar definierte und eindeutige Informationen. Das erleichtert die Zuordnung von Inhalten, reduziert Fehler und erhöht die Chance, korrekt in Antworten oder Suchtreffer eingebunden zu werden. So müssen KIs nicht erst erraten, was Textabschnitte bedeuten, sondern können dank der Auszeichnung gezielt auf inhaltliche Elemente zugreifen. Auch geht das schneller, als die Inhalte zu analysieren, was ein Argument für die Arbeitserleichterung der KIs sein kann – die eigene Analyse kostet wertvolle Rechenzeit.

Generell sollten wir das Hauptaugenmerk aber darauf richten, die Tipps der Gelassenen Suchmaschinenoptimierung zu berücksichtigen. Das heißt, wir sollten uns nicht rein von den aktuellen technischen Ansprüchen der Suchmaschinen treiben lassen. Stellen wir stattdessen hochwertige Inhalte für Menschen in den Mittelpunkt, die sowohl Mehrwert liefern, als auch leicht verständlich sind. Hierbei helfen eine klare Struktur, sinnvolle Überschriften und präzise verwendete Keywords, ohne den Text zu überladen. Neben dem Inhalt liegt der Fokus auf einer sauberen Website-Architektur, valider HTML-Programmierung und schnellen Ladezeiten. Das schafft ein solides Fundament, auf dem Maschinen und Lesende gleichermaßen Inhalte einfach finden und verarbeiten können. Gelassene Suchmaschinenoptimierung setzt auf Geduld und langfristige Planung, anstatt auf kurzlebige Technik-Tricks. So werden nachhaltige Rankings gefördert, die weniger anfällig für Algorithmusänderungen bei den Suchmaschinen sind, während gleichzeitig die Nutzerfreundlichkeit in den Vordergrund rückt. So profitieren sowohl Suchmaschinen als auch Besuchende von einer echten inhaltlichen Wertschöpfung. Und die KIs bedienen wir dabei auch. Mehr dazu hier: SEO & Texten im Zeitalter der KI – Newsletter 8/2024 – benutzerfreun.de
Werkzeug der Wahl
Für die eigene Webrecherche gefällt mir derzeit ChatGPT 4o am besten. Perplexity ist auch in Ordnung, es positioniert sich stärker als Suchmaschine – liefert für mich persönlich aber meist weniger gut aufbereitete Informationen als ChatGPT. (Das neueste Modell von ChatGPT, o1, kann noch nicht im Web suchen, genau so wenig wie Claude Sonnet 3.5.)
2) Informationsaufnahme wird bequemer
Mit KI lassen sich umfangreiche Dokumente – etwa wissenschaftliche Publikationen, Berichte oder Analysen – sowie stundenlange Videos mit Konferenzmitschnitten oder Interviews automatisiert zusammenfassen oder interaktiv analysieren. Wir könnten uns mit der KI dann auch darüber unterhalten, als hätte man eine Kollegin an der Seite, die bereits alle Details gesichtet und verstanden hat oder vor Ort mit dabei war. Wir können gezielt nachhaken und nach zusätzlichen Zusammenhängen oder Hintergründen fragen, ohne selbst das gesamte Material durcharbeiten zu müssen. Das kann entweder viel Zeit sparen oder wir können uns damit so intensiv mit Inhalten auseinandersetzen, wie es uns früher niemals möglich war. Darüber hinaus erweitert die KI unsere eigene Perspektive, indem sie auf Zusammenhänge hinweist, die wir womöglich übersehen hätten – eine Synergie aus menschlichem Fachwissen und KI-gestützter Datenanalyse. Genauso sind solche Systeme eine unschätzbare Hilfe beim Lernen.
Werkzeug der Wahl: Notebook LM
Das alles geht mit den meisten großen Sprachmodellen, jedenfalls in den Varianten, die mit PDFs oder auch Excel-Dateien oder Videos umgehen können. Besonders gut gefällt mir persönlich dazu Googles Notebook LM. Hier laden Sie eines oder dutzende Dokumente hoch, lassen sich dann Zusammenfassungen ausgeben, Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Dokumenten herausarbeiten oder diskutieren bestimmte Teilaspekte. Durch die integrierte Analysefunktion erhält man eine Art intelligentes Inhaltsverzeichnis, das Hauptgedanken, Argumente und Beispiele herausfiltert. So bekommen Sie einen Überblick über die wichtigsten Punkte, ohne selbst alle Dokumente durchforsten zu müssen. Die Ergebnisse können Sie für unterschiedliche Zielgruppen aufbereiten: von einer knappen Zusammenfassung bis hin zu einer tiefen Analyse für ein Fachpublikum.
Besonders beeindruckend finde ich die Audio-Funktion: Auf Mausklick erstellt Notebook LM eine Unterhaltung zwischen einer Moderatorin und einem Moderator, die eine angeregte Diskussion über die hochgeladenen Dokumente führen. Das geht derzeit nur auf Englisch (wobei die hochgeladenen Dokumente auch deutsch sein können).

Noch faszinierender: Sie können sogar mitdiskutieren. Habe ich zum Beispiel eine Stelle im Text nicht verstanden oder will mehr dazu wissen, kann ich direkt in die Diskussion eingreifen und eine Frage stellen. (Ähnlich funktioniert auch Illuminate von Google, doch dafür müssen Sie sich in eine Warteliste eintragen und die Diskussionen hier funktionieren wohl am besten für Wissenschaftsthemen.)
Theoretisch könnte ich NotebookLM auch nutzen, um etwa Forschungsberichte, Wettbewerbsanalysen, Nutzerinterviews oder Beobachtungsprotokolle analysieren zu lassen. Damit wäre ich persönlich aber sehr vorsichtig aus Gründen des Datenschutzes. Selbst wenn Sie Google vertrauen – die DSGVO schränkt stark ein, was Sie mit persönlichen Informationen tun dürfen und was nicht.
3) Beziehungen mit KI werden normal
Anthropomorphismus nennt es sich, wenn wir ein Gesicht in der Steckdose oder einem Hydranten sehen. Als soziale Wesen kann unser Hirn nicht anders, als überall menschliche Eigenschaften zu erkennen – auch, wenn wir klar wissen, dass wir es mit Dingen zu tun haben. Manche Menschen sprechen mit ihren Autos oder geben ihnen Namen. Und wir alle sprechen mehr und mehr mit Computern. Antworten diese dann auch noch so, wie wir es von Menschen kennen, dann kommen wir nicht umhin, Gefühle ähnliche wie bei der Interaktion mit Menschen zu empfinden. Die Betreibenden unterstützen das vielfach auch – die KI Claude hat einen menschlichen Vornamen wie auch Alexa, Siri oder Cortana. Und alle sind darauf trainiert, möglichst wie echte Menschen zu klingen.

Je besser die Antworten der großen Sprachmodelle werden und je mehr wir uns mit ihnen befassen, desto mehr menschliche Eigenschaften werden wir ihnen unweigerlich zuschreiben. Ich finde es wichtig, dass wir uns Gedanken darüber machen, was das mit uns macht. Dazu kann ich nur sehr empfehlen, diesen frei zugänglichen Artikel beim Magazin The Verge zu lesen: The confusing reality of AI friends (Wenn Sie lieber auf Deutsch lesen: bitten Sie ein Sprachmodell wie ChatGPT um die Übersetzung. Dann können Sie sich auch mit ihm über den Artikel unterhalten, was sich dann noch seltsamer anfühlt.)
Ich finde es verstörend, wie Menschen berichten, wie sie mit virtuellen Assistenten Beziehungen eingehen, die an Freundschaften, ja Partnerbeziehungen erinnern. Einige betrachten ihre KI-Partner sogar als therapeutische Unterstützung, etwa bei Depressionen oder nach traumatischen Erlebnissen. Wissenschaftliche Studien deuten darauf hin, dass solche Interaktionen für Menschen mit Depressionen vorteilhaft sein können. Aber natürlich kommen in dem Artikel auch kritische Stimmen zu Wort, die warnen, solche KI-Beziehungen könnten echte menschliche Interaktion nicht ersetzen und möglicherweise soziale Isolation verstärken. Auch Probleme bei Datenschutz und Finanzierung durch Werbung werden zitiert. Der Text ist aber aus meiner Sicht sehr gut, weil er vorurteilsfrei an das Thema herangeht, Nutzende persönlich und emphatisch porträtiert ohne zu werten. Und gerade dadurch ist die Lektüre so irritierend.

Werkzeug der Wahl
Für mich persönlich keines. Der bekannteste Anbieter ist Replika, der auf 10 Millionen Downloads seiner App und 250.000 Bezahl-Abos verweisen kann. Vom Facebook-Inhaber Meta gibt es AI Studio, was aber in Deutschland nicht verfügbar ist. Wer im Web nach „virtuelle Freundin“ oder „KI-Freundin“ sucht, findet mehr als ein Dutzend Anbieter. Und wenn man die Suche ausweitet auf KI-Chatbots, vervielfacht sich die Zahl der Treffer nochmal. Offenbar ein gewaltiger Markt.
Folgen für uns bei Konzeption & Design von Websites
Was das alles bedeutet für die Interaktion von Menschen mit Websites, Apps, Unternehmen und miteinander? Das ist die spannende Frage. Ich würde sagen, die Änderungen von meiner Beobachtung 1) werden wir in einem Jahr schon ganz gut absehen können: Menschen suchen mehr und mehr mit Hilfe von KI, entweder weiter über ein massiv verändertes Google oder über ein Sprachmodell wie ChatGPT, das aber mehr nach Google Trefferseite aussieht. Und bis dahin werden viele von uns schmerzliche Erfahrungen zur verringerten Sichtbarkeit unserer Websites gemacht haben.
Die Folgen von Beobachtung 2) werden noch etwas länger auf sich warten lassen: Unsere Informationsaufnahme und -Analyse werden sich durch Werkzeuge wie Notebook LM, aber auch die großen Sprachmodelle nach und nach verändern. Die spannende Frage wird sein, ob wir das nur tun, um Zeit zu sparen, oder ob wir die Möglichkeiten nutzen, um bessere Ergebnisse zu erreichen.
Und zu Punkt 3) traue ich mir keine Prognose zu. Wie stark und wann die Vermenschlichung von KI-Chatbots wie weit die Gesellschaft erfasst, kann ich nicht abschätzen. Mein Gefühl dazu ist aber: Das ist schon im vollen Gange, unbemerkt von den meisten von uns. Es gibt sicher Menschen, die das als Bedrohung empfinden. Ich finde es aber vor allem spannend – als UX-Experte mache ich nichts lieber als zu lernen, was Menschen mit Technologie so tun.
Haben Sie eine Meinung oder gar eine Prognose? Ich freue mich über Ihren Kommentar!