Der 1. Eindruck zählt – Ästhetik & UX – Newsletter 10/2023

Wenn es um das Design und die Benutzerfreundlichkeit von Websites geht, spielt der erste Eindruck eine entscheidende Rolle. Studien haben gezeigt, dass sich Nutzer innerhalb der ersten 50 Millisekunden (=0,05 Sekunden) nach dem Aufrufen der Seite eine Meinung über eine Website bilden. Das heißt, nach einer Zwanzigstel Sekunde ist die Entscheidung der Besuchenden über das gefallen, was wir im Web-Team in oft monatelangen Projekten erarbeitet haben. Dieses unglaublich schnelle Urteil beruht auf kognitiven Prozessen und hat natürlich erhebliche Auswirkungen auf Usability-Tests und auch auf das Web-Design im Allgemeinen.

In ihrer Studie von 2006 haben die Psychologin Gitte Lindgaard und ihr Team Testpersonen verschiedene Websites unterschiedlich lang präsentiert. Es hat sich gezeigt, dass das deren Urteil über die Ästhetik innerhalb von nur 50 Millisekunden gefallen war. Längere Präsentationszeiten führten überraschenderweise zu keinen signifikanten Änderungen.

Kognitive Heuristiken und Schnellurteile

Wir Menschen verwenden unbewusst sogenannte kognitive Heuristiken (sozusagen mentale Abkürzungen), um die Qualität und Relevanz einer Website schnell zu beurteilen. Visuelle Elemente wie Farbe, Layout, Typografie und Bildsprache spielen bei dieser Beurteilung eine Rolle. Kognitionspsychologische Konzepte wie die von Daniel Kahneman entwickelte Theorie der zwei Systeme erklären, dass das Gehirn sowohl schnelles, intuitives Denken als auch langsames, analytisches Denken anwendet (siehe sein großartiges Buch Schnelles Denken, langsames Denken). Bei unserem täglichen Umgang mit Apps und Websites kommt vor allem das erste, schnelle, System zum Tragen – der erste Eindruck entscheidet.

Cover Schnelles Denken, langsames Denken
Unbedingt lohnend: Kahnemans Buch darüber, wie wir Menschen denken.

(Lassen Sie sich nicht verwirren: Der Begriff Heuristik wird im UX-Umfeld auch noch in einer zweiten Bedeutung verwendet: Und zwar dann, wenn wir eine Benutzeroberfläche bewerten, basierend auf etablierten Usability-Prinzipien – diese Liste von Prinzipien wird oft als „Heuristik“ bezeichnet. Jakob Nielsen hat beispielsweise 10 Usability-Heuristiken aufgestellt, die als Leitfaden für die Beurteilung von Benutzeroberflächen dienen. Diese Art von Heuristik ist also ein Werkzeug, das UX-Profis verwenden, um Usability-Probleme in einer Benutzeroberfläche systematisch zu identifizieren bzw. einzuordnen.)

Wir Menschen beurteilen Anwendungen nicht nur super schnell, wir lassen uns von diesem Urteil auch nur ausgesprochen schwer wieder abbringen. Dieser psychologische Effekt nennt sich Bestätigungsfehler:

Confirmation Bias – Bestätigungsfehler

Testpersonen beurteilen generell die Usability einer Website besser, wenn sie ihnen gefällt. Dieses Phänomen lässt sich mit dem Confirmation Bias (deutsch Bestätigungsfehler) erklären: Haben wir Menschen uns ein Urteil gebildet, versuchen wir, dieses zu bestätigen. Das passiert unwillkürlich und auch dann, wenn wir diesen Effekt kennen.

Manchmal wird dieser Effekt auch „halo effect“ genannt (halo bedeutet Schein oder Ausstrahlung). Im Fall von Anwendungen strahlt deren angenehme Ästhetik auf andere Eigenschaften aus, wenn wir diese bewerten sollen. Das heißt, machen wir unsere Anwendung hübsch, dann wird sie erfolgreicher. Aber das ist leichter gesagt als getan.

Wie geht „schön“?

Schönheit, Ästhetik, visuelle Qualität … es gibt viele Begriffe dafür, das zu beschreiben, was uns gefällt. Aber Einigkeit darüber, was genau das ist, was uns gefällt, gibt es oft keine und schon gar keine objektiven Kriterien dafür. Je nach kulturellem Hintergrund, Erfahrungen und Erwartungen findet jeder Mensch unterschiedliche Dinge „schön“. Das macht unsere Aufgabe so herausfordernd, gute Websites zu gestalten.

screenshot baidu.com
Die erfolgreichste chinesische Site – baidu.com. Für westliche Augen eher überladen und wenig übersichtlich.
Screenshot google.com
Reduzierte und klar strukturierte Sites wie google.com werden von chinesischen Testpersonen als kalt und informationsarm beurteilt.

Es gibt universelle Dinge, die allen Menschen gefallen – wie z.B. der goldene Schnitt (die Anordnung von Elementen nicht in der Bildmitte, sondern etwa ein Drittel der Gesamtbreite des Bildes vom Rand entfernt). Doch die meisten ästhetischen Vorlieben sind entscheidend von dem Kulturkreis und von der Zeit geprägt, in der wir leben.

Für unsere praktische Arbeit im Design hilft uns letztlich am ehesten eine pragmatische Haltung weiter: Wie so oft kommt es nicht darauf an, ob eine Website oder App uns gefällt, die wir sie erstellen. Es kommt darauf an, dass sie der Zielgruppe gefällt. Das heißt, wir sind am besten bedient, wenn wir Tests mit Personen aus der Zielgruppe machen. Ist das nicht möglich, dann fahren wir am besten, wenn wir uns an dem orientieren, was unsere Zielgruppe von anderen Sites, Apps oder auch Medien her kennt. Wir müssen uns also an der erfolgreichen Konkurrenz orientieren.

Denn interessanterweise beurteilen Menschen Websites positiver, die so aussehen, wie sie das erwarten. In der Forschung wird von „Prototypikalität“ (englisch „prototypicality“) gesprochen, um zu beschreiben, wie typisch eine Site für seine Art/Kategorie ist. Studien zeigen: Je höre die Prototypikalität, desto besser die Bewertung der Testpersonen. Das bedeutet damit auch: Wollen Sie eine gute Bewertung, erstellen Sie besser eine Site, die durchschnittlich aussieht. Aber auch die visuelle Komplexität spielt eine Rolle: Je geringer, desto besser tendenziell die Bewertung.

Wollen wir uns abheben und Dinge deutlich anders machen, gehen wir ein Risiko ein. Erfahrung hilft hier, Bauchgefühl nicht unbedingt. Je ungewöhnlicher die Gestaltung, desto wichtiger werden Tests mit Personen aus der Zielgruppe. Denn mit einer ungewöhnlichen Ästhetik haben Sie die kleine Chance, etwas ganz Besonders zu erschaffen, was sich abhebt, uns viel besser beurteilt wird als die Konkurrenz. Sie haben aber die viel, viel größere Gefahr, etwas zu erschaffen, was anders ist, aber bei den Nutzenden durchfällt.

1 Gedanke zu „Der 1. Eindruck zählt – Ästhetik & UX – Newsletter 10/2023“

  1. Liebes Team von benutzerfreun.de,

    Wow, dieser Artikel hat es wirklich getroffen! 🚀 Als Online Marketing Agentur erleben wir tagtäglich, wie wichtig der erste Eindruck für den Erfolg unserer Kundenprojekte ist. Ihr habt es auf den Punkt gebracht: diese flüchtigen Momente der ersten Begegnung können den Verlauf des gesamten Nutzererlebnisses bestimmen.

    Dass diese schnellen Urteile auf kognitiven Prozessen basieren und schon nach 50 Millisekunden getroffen werden, ist absolut faszinierend und zugleich erschreckend. Vor allem, wenn man bedenkt, wie viel Herzblut und Arbeit oft in diese Projekte fließt. Aber genau das macht unsere Arbeit ja so spannend, oder? 😊

    Besonders interessant fand ich den Teil über die kognitiven Heuristiken. Das Buch von Kahneman steht schon länger in meinem Regal und wird dank eurer Empfehlung definitiv wieder herausgeholt! Es ist beeindruckend zu sehen, wie diese kognitiven Muster unseren Umgang mit Websites und Apps beeinflussen.

    Der Abschnitt über kulturelle Unterschiede und ästhetische Vorlieben hat uns hier in der Agentur besonders zum Nachdenken gebracht. Die Beispiele mit baidu.com und google.com sind so treffend! Es erinnert uns daran, dass „schön“ relativ ist und dass es immer wichtig ist, die Zielgruppe im Blick zu behalten. Denn am Ende des Tages wollen wir, dass die Nutzer sich wohlfühlen und gerne wiederkommen.

    Abschließend: Euer Hinweis auf „Prototypikalität“ und das Risiko von ungewöhnlichem Design ist Gold wert. Es ist ein Balanceakt – zwischen dem Mut, innovativ zu sein, und dem Wissen, was bereits funktioniert.

    Danke für diesen inspirierenden Beitrag! Wir freuen uns schon auf den nächsten Newsletter. Bis dahin, macht weiter so! 💪🎉

    Herzliche Grüße,

    Šukri

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