Menschzentrierte Entwicklung – Newsletter 5/2022

Manchmal hat man das Gefühl, die aktuellen Schlagwörter der UX-Szene folgen schneller aufeinander, als man mit Schreiben hinterherkommt. Wenn ich sie hier aufgreife, empfinde ich sie als wichtig – das aktuelle liegt mir aber besonders am Herzen: Menschzentrierte Entwicklung.

Wer jetzt aufstöhnt und meint, das sei wieder nur ein neuer Begriff für längst Bekanntes: In diesem Fall ist es nicht so.

Warum ist mir der Begriff menschzentriert wichtig? Und bedeutet das nicht das Gleiche wie nutzerzentriert?

Was ist nutzerzentrierte Entwicklung?

Beginnen wir mit dem Einfachen, dem Bekannten: Auf die Fahnen geschrieben haben sich inzwischen viele die nutzerzentrierte Entwicklung (user-centered design). Das heißt, dass Produkte und Dienstleistungen nicht mehr (nur) am Schreibtisch entstehen. Vielmehr werden die (zukünftigen) Nutzenden in die Entwicklung eingebunden. Der Grad dessen ist in der Praxis sehr unterschiedlich. Manche beschränken sich darauf, ein paar Gespräche mit potenziellen Nutzenden zu führen.

Richtig umgesetzt ist Nutzerzentrierung aber deutlich mehr. Es beginnt mit Gesprächen, Beobachtung von Nutzenden, frühes Testen von Prototypen mit Personen aus der Zielgruppe – und das wiederholt, in unterschiedlichen Entwicklungsstufen.

Im Zentrum stehen also die Nutzenden, denn diese müssen ja letztlich am Ende zufrieden mit dem Produkt sein, es kaufen und verwenden. Wenn wir so arbeiten, erhöhen wir unsere Chance, eine gute, eine erfolgreiche Anwendung zu entwickeln. Das ist also schon rein ökonomisch sinnvoll.

Was ist menschzentrierte Entwicklung?

Bei der menschzentrierten Entwicklung (human-centered design) steht, wie der Name sagt, der Mensch im Mittelpunkt. Es geht also nicht nur um diejenigen, die eine Anwendung nutzen sollen, sondern um alle Menschen. Damit geht die menschzentrierte Entwicklung über die nutzerzentrierte Entwicklung noch hinaus.

Warum menschzentriert nicht gleich nutzerzentriert ist

Menschzentrierte Entwicklung ist für alle Menschen, unabhängig von Fähigkeiten, Alter, Bildung oder kulturellem Hintergrund. Daher liest man auch von „universal design“, „inclusive design“ oder von „design for all“. Dabei gibt es feine Unterschiede, auf diese möchte ich hier aber nicht eingehen.

Website Jira mit inclusive design
Ein einfaches Beispiel für inclusive design: Auch für die Progammier-Software Jira sind nicht nur weiße Männer auf der Illustration zu sehen.

Nutzerzentriert zu arbeiten ist schon rein aus Geschäftsinteresse sinnvoll. Menschzentriert zu arbeiten dagegen folgt eher einem ethischen Imperativ. Denn wenn ich Bedürfnisse von Menschen mit berücksichtige, die keine Kundinnen oder Kunden von mir sind, kann das nicht immer direkten Umsatz bringen.

Manchmal gibt es auch schwierige Entscheidungen, wenn ich menschzentriert arbeite. So kann es z.B. einen Konflikt zwischen Ästhetik und Barrierefreiheit geben, wenn ich also etwa die Leserlichkeit von Schrift für Legastheniker berücksichtige. Es gibt Schriftarten, die für solche Menschen leichter zu entziffern sind als andere. Das schränkt meine Auswahl für die Gestaltung somit natürlich ein.

Zwischenfazit

Nach meiner Einschätzung ist es mit dem Begriff menschzentriert wie mit dem Begriff UX: Er ist umfassender, und daher wird er sich durchsetzen. Wir sprechen heute von UX-Designer:innen, nicht von Usability-Designer:innen. Und ebenso werden wir in Zukunft vielleicht mehr von menschzentrierter Entwicklung, weniger von nutzerzentrierter Entwicklung sprechen.

Häufigkeit human centered verglichen mit user centered
Im englischen Sprachraum wird der Begriff „human centered“ inzwischen häufiger verwendet als „user centered“.

Ach ja, und ein schöner Nebeneffekt ist, dass wir mit menschzentriert gleich einen gendergerechten Begriff haben, anders als nutzerzentriert (und nutzer:innenzentriert ist doch etwas umständlich).

Wen kümmert Menschzentriertheit?

Interessanterweise sind die Normen bei der Menschzentriertheit der Praxis voraus: Die für UX hoch relevante ISO 9241-210 heißt „Ergonomie der Mensch-System-Interaktion – Teil 210: Menschzentrierte Gestaltung interaktiver Systeme“.

„Benutzerzentriertheit“ taucht in der Norm aber auch auf, und zwar bei der Evaluierung. Also beim interaktiven Testen der Anwendung bzw. von Prototypen mit Nutzenden.

Und es gibt sogar eine Norm, die das Thema Menschzentriertheit speziell für „Vorstandsmitglieder und politische Entscheidungsträger in allen Arten von Unternehmen (große und kleine) im privaten, öffentlichen und gemeinnützigen Sektor“ aufbereitet: ISO 27500 – Die menschzentrierte Organisation – Zweck und allgemeine Grundsätze.

Darin sind die Vorteile der menschzentrierten Entwicklung aufgezählt und sie erläutert die (wirtschaftlichen) Risiken, die entstehen, wenn man nicht so arbeitet.

Neben den direkten ökonomischen Vorteilen kommt natürlich hinzu, dass ethische Grundsätze für mehr und mehr Käuferinnen und Käufer als Entscheidungsfaktor wichtig werden.

Was heißt das für mich in der Praxis?

Werbung für nutzerzentriertes Arbeiten muss ich wohl kaum mehr machen bei allen, die den Newsletter oder mein Blog lesen.
Zusätzlich dazu kann es sinnvoll sein, seinen Blick noch zu weiten und möglichst viele Menschen zu berücksichtigen bei der Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen.

Ich persönlich werde in Zukunft mehr und mehr von menschzentrierter Entwicklung sprechen.
Und Sie? Schreiben Sie mir gern oder hinterlassen Sie einen Kommentar im Blog!

2 Gedanken zu „Menschzentrierte Entwicklung – Newsletter 5/2022“

  1. Als der Begriff Usability durch den Begriff UX verdrängt wurde, war ich skeptisch, weil m. E. dadurch die Usability des Begriffs abgenommen hat: Was Usability bedeutet, kann jemand, der das Wort zum ersten Mal liest, zumindest erahnen. Bei der Abkürzung UX bekommt er oder sie keinerlei Hinweis.
    Die inhaltliche Ausweitung, die du als Trend begrüßt, kann das Profil des Themas leider auch verwässern. Wenn zu viele Aspekte aufgenommen werden, wird das Ganze mehr und mehr zur Symbolpolitik oder zur Binsenwahrheit. Diese Gefahr sehe ich bei dem Begriff „menschzentriert“. Designer und Programmierer sind ja auch Menschen. Wenn sie also bei der Entwicklung vor allem sich selbst im Blick haben, können sie das vielleicht als menschzentriert verstehen und verkaufen, zumindest wenn sie irgendwo das Gesicht einer schwarzen Frau eingebaut haben.

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    • Sehr schlaue Anmerkung, vielen Dank!
      Die „Usability“ des Begriffs „UX“ finde ich persönlich nicht so schlecht, nach einem subjektiven Eindruck ist das mit „Usability“ auch nicht viel besser – Menschen, die mit dem Thema nicht so viel zu tun hatten bisher haben sowieso oft eine falsche Vorstellung, davon, was dahinter steckt.
      Aber den zweiten Teil des Arguments kann ich sehr gut nachvollziehen. Die Gefahr mit der Symbolpolitik sehe ich auf jeden Fall auch!

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