User Experience der Zukunft – ux congress 2015

Wir leben in spannenden Zeiten. Apps & Wearables überwachen unseren Körper, halten uns gesund – oder machen uns Angst. Autos fahren selbstständig, während wir mit VR-Brillen in Welten eintauchen, die der echten nichts in Realismus nachstehen. Per Sprachbefehl steuern wir Maschinen, per Knopfdruck im Vorratsschrank bestellen wir Klopapier, Kaffee oder Katzenstreu.

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Doch wie sorgen wir bei all der Technik dafür, dass wir den Nutzer nicht aus dem Blickfeld verlieren? Wie stellen wir sicher, dass er mit den ganzen schönen neuen Geräten auch umgehen kann? Dass wir ihm mit der Technik dienen und nicht umgekehrt?

Mit solchen Fragen befassten sich UX-Berater, Designer, Konzepter und andere Experten aus dem vielfältigen Umfeld Usability/User Experience die letzten zwei Tage in Frankfurt. Dort fand der ux congress 2015 vom 19.–20. Oktober in kollegial-freundschaftlicher Atmosphäre statt.

Google, Amazon & Apple dominieren die Wirtschaft

Prof. Wolfgang Henseler zeigte, wie einige neue Amazon-Produkte funktionieren und das Bestellen von Kaffee und anderen Verbrauchsgütern automatisieren. Wie dem Benutzer der ganze Prozess immer leichter gemacht wird – und wie er damit mehr und mehr an Amazon gebunden wird.

Henseler warnte die Auto-Hersteller, dass sie langfristig von Apple, Google & Co abhängig werden – denn die kennen die Kalender der Nutzer und wissen, wann die ein Auto brauchen. Die Auto-Konzerne werden so zum Dienstleister für die IT-Firmen. Um Autos wird es in Zukunft nicht gehen, sondern um Dienste.

Diese Einstellung zog sich durch viele Vorträge: Wir müssen immer mehr in Diensten (“Services”) für die Nutzer denken, in Lösungen für ihre Probleme und viel weniger in Produkten, Benutzeroberflächen, Apps oder Websites.

https://youtu.be/EHMXXOB6qPA

Amazon Dash Replenishment Service

Fragen für die Kunden

Aus dem Vortrag von Diana Frank (“Was wäre, wenn es einfach wäre?”) habe ich vor allem die zwei schönen Fragen für Kunden/Auftraggeber mitgenommen:

  • Was könnt ihr besonders gut?
  • Warum vertraut euch der Nutzer?

Diese Fragen gefallen mir gut, weil wir damit in eine positive Richtung steuern und über die Vorteile sprechen, die wir kommunizieren/stärken wollen und gleichzeitig über die Nutzer/Endkunden.

Schön fand ich auch ihren Spruch zu Projekten, die nicht so laufen, wie wir uns das vorstellen, weil der Auftraggeber scheinbar “schwierig” ist:

Wenn es nicht leicht ist, ist es vielleicht falsch.

Live-Personalisierung von Websites

Mirko Melcher (ein Mitarbeiter von André Morys) zeigte, wie man mit Hilfe des Verhaltens eines Nutzer auf einer Shopping-Site ziemlich schnell herausbekommt, was für ein Typ dieser Besucher ist. Man kann ihn mit einfachen Infos einer Persona zuordnen, z.B. durch:

  • von welcher Site kommt er?
  • wie viele Sessions hatte er schon auf der Site?
  • wie lang waren diese?

Kommt der Besucher z.B. von einer Preisvergleichs-Site, kann man davon ausgehen, dass er eher preissensitiv ist. Die Texte auf der Seite können dann so angepasst werden, dass sie besonders die preissensitiven Kunden ansprechen.

Marke und UX

Die Marke ist eines der Themen, das insbesondere Marketer und Chefs/Geschäftsführer/Vorstände gern diskutieren – ganz im Gegensatz zur User Experience. Das sagt Felix van Sand, der einige sehr schöne Beispiele vorstellte, wie man schöne und gut nutzbare Benutzerschnittstellen konzipiert. Und dabei darauf achtet, dass Gestaltung, Anmutung, Texte, Animation und Interaktion zur Marke passen.

Er riet dazu, konzeptionelle Entscheidungen aus der Marke heraus zu begründen, um Geschmacksdiskussionen zu vermeiden. (“Meine Frau meint, der Entwurf braucht noch mehr Rot.”)

Sehr schön fand ich auch die Moodboards mit Fotos, die er gezeigt hat, um die Begriffe zu illustrieren, die mit der Marke verbunden werden sollen. (“Leichtigkeit”, “Empathie”, “Dynamik”…) Damit bringt man die richtigen Bilder in die Köpfe der Teammitglieder und Stakeholder.

Sei supernett zu Usern

Sehr schön waren auch die Beispiele, die Lars Ohlerich gezeigt hat. Auch hier ging es um die Marke – und darum, wie man dem Management klar macht, dass UX einen ganz entscheidenden Anteil daran hat, wie die Nutzer die Marke wahrnehmen.

Auch Details spielen eine große Rolle: Die Artikel-Kaufplattform Blendle zum Beispiel gibt dem Erstnutzer z.B. die Info, dass er 2,50 Euro für seine Registrierung geschenkt bekommt. Statt einfach “OK” auf den Button darunter zu schreiben, steht dort bei Blendle “supernett”. Finde ich auch eine sehr nette Idee.

Lahme Websites – ein Konzepterproblem

Warum wir immer länger warten müssen, bis Webseiten geladen werden, obwohl Leitungen, Mobilfunkverbindungen und Geräte immer schneller werden, damit habe ich mich in meinem eigenen Vortrag befasst.

Die wichtigsten Punkte habe ich vor einigen Wochen  im Usabilityblog aufgeschrieben: Website-Performance – der vergessene UX-Faktor

Und hier im Blog stehen noch einige weiterführende technische Tipps: Erfolgreiche Sites sind schnell

Und wer die Folien sehen will, hier sind sie (ohne meine Erzählungen sind sie aber nur begrenzt hilfreich, wer den Vortrag nicht gehört hat, ist mit den beiden Artikeln oben besser bedient): „Lahme Websites“ auf Slideshare

Fragen hilft

Dass wir die Nutzer fragen sollen (oder sie beobachten sollen), das muss man einem UX-Experten nicht mehr erzählen. Markus Pass gab aber den wertvollen Tipp, auch mal den Auftraggeber/Chef/Stakeholder zu fragen. Und das nicht nur am Anfang des Projekts, sondern z.B. vor allem dann, wenn er mit einem Änderungswunsch kommt, den wir für eine dumme Idee halten. Titel seines Vortrags: “Mit Abwehrhaltungen umgehen”.

Denn es ist viel einfacher und für den Projekterfolg besser, nicht gegen den Vorschlag zu kämpfen oder ihn abzutun. Es hilft sehr, zu verstehen, warum dieser seltsame Vorschlag kommt. Wenn man das herausgefunden hat, findet sich oft ein Weg, das zugrundeliegende Bedürfnis so zu befriedigen, dass der Chef/Auftraggeber zufrieden ist und gleichzeitig die Usability nicht leidet.

Er gab auch noch Tipps, wie man den “Aber…-Typ”, den “Einzelkämpfer in entscheidender Position” oder den “Wunschlisten-Typ” im Projekt sinnvoll einbindet und vermeidet, dass einem diese komplizierten Partner das Leben schwer machen.

Frankfurt School of Finance & Management
In der Frankfurt School of Finance & Management fand der Kongress statt.

Smarte Tipps für Smartwatches

Am zweiten Tag gab Jan Pohlmann einige Tipps, wie man Smartphone-Apps so gestaltet, dass sie nicht nur gut aussehen, sondern auch eine gute User Experience bieten.

Zu Beginn fragte er ins Publikum, wer alles schon eine Smartwatch ausprobiert hat – es waren gut 80 Prozent. Dann fragte er, wer regelmäßig eine benutzt – das waren dann nur noch 5 Prozent. Sind Smartwatches also Quatsch?

Wohl kaum, wir stehen hier nur am Anfang einer Entwicklung, die durchaus auch Potenzial hat. Ein paar technische Verbesserungen sind sicher noch nötig (Batterielaufzeit z.B.!), und einige schlaue Konzepte.

Eine gute App fürs Handgelenk sollte auf jeden Fall:

  • sich aufs Wesentliche konzentrieren
  • Interaktionen < 5 Sekunden haben
  • Minimale Interaktionen bieten/nutzen
  • keine aufwendigen Eingaben erfordern
  • gewohnte Gesten nutzen
  • minimale Nachrichten verschicken/anzeigen

Er zeigte eine gut gemachte Apps, die vor allem aus den Bereichen Fitness, Reisen und Ernährung/Kochen stammten.

Hilfreich fand ich auch die Tipps zum Prototyping mit Papier in Smartwatch-Form oder ans Handgelenk geschnallten Smartphones, um früh mit Nutzern testen zu können.

Guerilla Relaunch

Begeistert hat mich auch der Vortrag von Michél Wollenschläger, der bei auxmoney.com ein tolles Relaunch-Projekt vorgestellt hat und damit Kollegen und Chefs begeistert hat. Leider waren die letzteren dann vom geschätzten Aufwand so geschockt, dass das Projekt sofort gestoppt und Relaunch zum Taubwort wurde.

Im Geheimen hat er dann mit Kollegen weitergearbeitet und Schritt für Schritt die alte Website erst nachgebaut und dann gerelauncht. Das gab mächtig Ärger, bis er die aktuellen Konversionszahlen vorlegen konnte – und der Chef mit 30 Prozent Uplift dann doch sehr zufrieden war.

Ich bin gespannt, was Michel weiter davon berichtet – das will er auf http://leanrelaunch.de tun.

Dem Nutzer auf die Finger geschaut

Juliane Richter hat einige spannende Erkenntnisse präsentiert, die sie mit m-pathy gewonnen hat. Dabei wird das Nutzerverhalten von Websitebesuchern aufgezeichnet – inklusive Mausbewegungen bzw. Tipp- und Scrollbewegungen auf Touchdisplays.

Überraschend: Bei einigen untersuchten Sites scrollen die Nutzer auf dem Smartphone durchaus nicht so weit, wie ich immer dachte (weil Footer oft gut genutzt werden). Bei den präsentierten Beispielen aber sah man, dass weniger als ein Viertel der Besucher weiter als etwa zwei Screenhöhen nach unten gescrollt haben.

Auch die präsentierten Erkenntnisse aus anderen Fallbeispielen waren sehr erhellend.

Auch mal offline gehen

Erik Winterberg und Simon Wannagat erzählten, wie sie an die Aufgabe herangegangen sind, einen Bereich für Kinder auf der Website eines Freizeitparks zu konzipieren. Als es daran ging, die Website dann mit dem Besuch vor Ort im Freizeitpark zu verbinden, kamen allen Konzeptern viele tolle Ideen – Apps, Beacons, VR, augmented reality… doch dank Befragungen von Eltern und Kindern wurde schnell klar: Die Nutzer wollen das nicht. Man fährt doch nicht in einen Freizeitpark, um dort wieder in sein Smartphone zu gucken, wie man es jeden Tag tut.

Statt dessen gibt es dort Papier, Broschüren und Strichcode-Karten zum Punkte-sammeln.

Gesundheits-App auf dem Weg der Besserung

Als letzten Vortrag gab Dr. Ursula Kramer einen Einblick in die Welt der Gesundheits-Apps. Sie stellte vor, wie ernüchternd das Angebot derzeit ist: Zwar gibt es Tausende von Apps, die sich in diesem Bereich tummeln, aber kaum eine, die auch nur grundlegenden Anforderungen an echte Gesundheits-Apps genügt.

Manche dieser Apps bieten zwar eine gute User Experience. Doch versagen sie z.B. im Bereich Datenschutz, im Bereich Offenheit (z.B. wie finanziert sich die App?), oder im Bereich Vertrauenswürdigkeit. Manche dieser Apps bieten so viel und können zu so einem wichtigen Werkzeug im Umgang mit der eigenen Gesundheit bzw. einer Krankheit werden, dass eine Zertifizierung notwendig wäre – um die Privatsphäre der Nutzer zu schützen und lebensbedrohliche Situationen zu vermeiden.

Fazit

Vor den zwei Konferenzräumen haben die Kollegen und Kolleginnen von eResult einige Smartwatches und eine chice VR-Brille bereitgehalten. Wer wollte, konnte die verschiedenen Geräte selbst einmal live ausprobieren.

Hier vor den Vortragsräumen fanden auch ebenso wichtige Interaktionen wie die Vorträge selbst statt: Die Unterhaltungen mit den Kollegen. Wieder einmal höchst anregend und spannend – wie auch die Party am ersten Abend mit Blick auf den Main bei dem ein oder anderen Getränk…

Abends am Frankfurter Mainufer
Abends am Frankfurter Mainufer

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