Newsletter 07/2007 – Bei der Auswahl helfen

„Wer die Wahl hat, hat die Qual.“ An diesem Sprichwort ist mehr Wahres als Sie vielleicht zunächst vermuten. Und das hat Auswirkungen darauf, wie wir im Web und anderswo einkaufen. Auch wenn Sie auf Ihrer Site nichts verkaufen bieten Sie Ihren Benutzern immer eine Auswahl – die von Navigationselementen, Menüeinträgen oder Links.

Mit dem Problem der Auswahl hat sich auch schon der Philosoph Hegel im Jahr 1821 beschäftigt:

„Der gewöhnliche Mensch glaubt, frei zu sein, wenn ihm willkürlich zu handeln erlaubt ist, aber gerade in der Willkür liegt, daß er nicht frei ist.“

Da ist etwas dran. In die philosophische Auslegung wollen wir jetzt nicht einsteigen. Aber in den letzten Jahren haben Untersuchungen im Kernspintomograph belegt, dass bei unseren Entscheidungen oft weniger freier Wille im Spiel ist als wir glauben möchten: Das Gehirn hat schon einige Millisekunden zuvor entschieden was wir tun, bevor wir den bewussten Entschluss dazu fassen. Aber auch das nicht-Entscheiden rückt immer stärker in den Fokus der Forscher.

Zu viel Auswahl = Unzufriedenheit

Auch ohne die teuren Geräte der Hirnforschung lassen sich spannende Untersuchungen zur Entscheidung etwa von Käufern durchführen. Viele von diesen beschreibt der US-Psychologe Barry Schwartz in seinem Buch „Anleitung zur Unzufriedenheit. Warum weniger glücklicher macht“ (englisch „The Paradox of Choice“).

Schwartz bringt das Wesentliche auf den Punkt mit seiner Erzählung von seinem letzten Kauf einer Blue Jeans: Seit vielen Jahren hat er keine Jeans mehr gekauft. Er geht also in ein Geschäft und steht fassungslos vor dem Regal. Slim fit, regular fit, loose fit. Boot cut, Low boot, Urban cut. Dark worn, Used, Stone washed. Wide leg, Zip fly, Button fly. Das alles sind nur die Merkmale der Modelle einer einzigen Marke! Bei seinem letzten Einkauf vor Jahrzehnten hat er seine Größe angegeben und konnte ohne Anprobe direkt zur Kasse gehen. Mit Hilfe eines freundlichen Verkäufers hat Schwartz nach einer guten halben Stunde doch noch eine wunderbare Hose gefunden. Er verlässt mit der Jeans den Laden, die ihm so gut passt wie keine, die er zuvor gekauft hatte. Doch er fühlt sich so unsicher wie niemals zuvor nach einem Hosenkauf. Wie kann er sicher sein, dass er nicht ein Modell übersehen hat, das noch viel besser wäre als das, welches er gekauft hat? Wäre das Modell mit dem Standard fit nicht vielleicht doch noch besser gewesen?

Diese Anekdote stellt Schwartz auf eine wissenschaftliche Grundlage, indem er viele Forschungsergebnisse zitiert. Recht bekannt ist das Experiment mit den Marmeladen: Die Wissenschaftler Sheena Iyengar und Mark Lepper bauten in einem Feinkostgeschäft einen Stand auf, an dem Kunden Marmeladen probieren konnten. Standen dreißig Sorten zur Wahl, war das Interesse an dem Stand größer, als zu dem Zeitpunkt, an dem nur sechs Sorten angeboten wurden. Doch interessanterweise kauften die Kunden mehr, wenn sie nur sechst Sorten probieren konnten.

Das Experiment wurde mit Schokolade wiederholt und die Ergebnisse bestätigt. Ebenso mit Kugelschreibern: je größer die Auswahl, desto geringer die Bereitschaft, sich zu entscheiden. Auch Studenten, die aus 30 Themen auswählen konnten, gaben weniger Aufsätze ab als Studenten, die nur aus sechs Themen wählen konnten.

Und auch für teurere Produkte gilt die Regel: Die Psychologen Amos Tversky und Eldar Shafir legten in das Schaufenster eines Fotogeschäfts eine hochwertige Digitalkamera, die sehr günstig angeboten wurde – sie verkaufte sich hervorragend. Legten sie eine zweite daneben, die qualitativ vergleichbar war und ebenso günstig angeboten wurde, sanken die Verkaufszahlen drastisch.

Auswahl einschränken – oder helfen

Für unsere Websites heißt das: wir müssen der Versuchung widerstehen, immer mehr Auswahlmöglichkeiten anzubieten. Selbst wenn wir immer mehr hervorragende Inhalte produzieren und innovative Funktionen entwickeln, sollten wir diese nicht einfach anbieten, ohne das Umfeld genau anzusehen.
Haben Sie eine neue Funktion, die bisher auf Ihrer Site noch nicht vorhanden war, ist es leichter – die Benutzer müssen dann ja nicht direkt zwischen zwei Varianten auswählen. Aber sobald die Benutzer die Wahl haben zwischen zwei Funktionen, die sich zumindest etwas ähnlich sind, sollten Sie Hilfe anbieten. Machen Sie klar, was die beiden Funktionen unterscheidet und welche für welchen Einsatzzweck und für welche Nutzergruppe die richtige ist. Noch besser: überlegen Sie sich vor der Entwicklung, ob die neue Funktion überhaupt nötig ist. Falls ja, prüfen Sie, ob Sie die alte nicht entfernen können. Genau das Gleiche gilt für Inhalte auf Ihrer Website. Je mehr Sie anbieten, desto schwerer machen Sie den Benutzern die Wahl.

Und wenn Sie einen Webshop betreiben, müssen Sie sich sogar noch mehr Gedanken machen. Je größer die Auswahl, desto besser muss die Strukturierung sein und desto mehr Entscheidungshilfen sollten Sie anbieten. Amazon ist zwar einer der erfolgreichsten Shops. Das Angebot dort ist aber inzwischen wegen der Unmenge eingestellter Produkte sehr schwer durchschaubar. Das ist mit eine Grund dafür, warum spezialisierte Shops noch immer gut neben Amazon existieren können – sogar wenn sie etwas teurer sind.

Überlegen Sie also auch hier, ob Sie mit einer Erweiterung des Angebots die Entscheidung der Nutzer nicht schwieriger machen. Auch bei der Auswahl lässt sich wieder der schöne Spruch von Mies van der Rohe zitieren: Weniger ist mehr.
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(c) Jens Jacobsen 2007

Bei Weiterleitung oder Zitat bitte Quellenangabe („Quelle:
benutzerfreun.de-Newsletter Juli 2007“).

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