Newsletter 04/2006 – Durch die digitale Kluft von der Zielgruppe getrennt?

Das Internet und neue Technologien sind wieder angesagt. Noch vor wenigen Monaten blickte die IT-Branche trübe in die Zukunft und die Medien berichteten lieber über Pleiten, Umsatzrückgang und Technikfeindlichkeit. Doch derzeit haben Viele das Gefühl, in einer sehr spannenden Zeit des Umbruchs zu leben. Schlagworte wie Web 2.0, Breitband, UMTS, RSS, Blogs, Podcasts und Soziales Web finden sich fast täglich auch in den allgemeinen Medien. Nützliche neue Dienste entstehen fast wie am Fließband, mächtige Technologien werden ständig leichter zu bedienen und immer preiswerter.

Schöne neue Welt

Sehr schnell gewöhnen wir uns an den Komfort eines Breitbandzugangs, an Flatrates, an ständige Erreichbarkeit über Handy, Laptop und PDA. Wir informieren uns auf Websites oder in Blogs über Ereignisse, die erst vor wenigen Augenblicken passiert sind. Wir planen in Minuten Reisen bis ins kleinste Detail, was uns noch vor wenigen Jahren Stunden, viel Nerven und etliche Telefoneinheiten gekostet hätte. Auch private Fragen werden eben mal in der Wikipedia oder bei Google geklärt – kein Gang in die Bibliothek, kein Anruf bei einem schlauen Freund, kein langes Einwählen in teure Fachinformationsdienste sind mehr notwendig.

Alles ganz normal?

Das alles scheint uns inzwischen ganz normal. Es beeinflusst unweigerlich die Art wie wir denken, was wir als gegeben voraussetzen. Das ist eine große Gefahr, wenn wir einen Internetauftritt oder eine andere interaktive Anwendung planen.
Denn fast immer lebt die Zielgruppe nicht wie wir. Wir befassen uns beruflich mit dem Internet und neuen Medien und sind daher darüber recht gut informiert. Wir nutzen neue Technologien weit früher als der Durchschnitt der Bevölkerung. Fast alle Journalisten sind hier auch vorn mit dabei, Information und Kommunikation sind ihr tägliches Brot. Deshalb ist das Bild, das die Informations-Medien zeichnen, auch nicht ausgewogen.

Die digitale Kluft – digital divide

Schon vor zehn Jahren wurde der Begriff digitale Kluft (digital divide) geprägt. Er bezeichnet den Graben, der Nutzer und Nicht-Nutzer der modernen Kommunikations- und Informationsmittel trennt. Das hat einen weltweiten Aspekt, da die breite Bevölkerung in weniger entwickelten Ländern meist keinen oder nur sehr eingeschränkten Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnik hat. Aber auch innerhalb jedes Landes gibt es eine digitale Kluft.
Auf welcher Seite dieser Kluft man steht, hängt vor allem von zwei Faktoren ab: Ausbildung und Alter. Aber es gibt auch gut ausgebildete, junge Menschen, die nur einen eingeschränkten Zugang zu modernen Kommunikations- und Informationsmitteln haben. Entweder aus finanziellen Gründen oder weil sie es einfach so wollen.
Auch der Wohnort ist wichtig. In ländlichen Gebieten gibt es immer noch nicht überall DSL-Versorgung. Altersstruktur, Ausbildungsstand und soziales Umfeld sind hier anders als in einer Großstadt.
Zudem gibt es in unserer Gesellschaft viele kleine digitale Klüfte. Solche zwischen Handy-Telefonierern und -Verweigerern. Solche zwischen Internetnutzern und -Nichtnutzern. Zwischen PDA- und Filofax-Fans. Zwischen iPod-Hörern und Zeitungslesern. Zwischen Chattern und Treppenhaustratschern. Auch diese gilt es zu berücksichtigen.

Unterschiede beim Interesse

Wir arbeiten in einer Branche, die stark technikgetrieben ist. Erst kommt die Technik, dann folgen die Inhalte. Die meisten von uns sind fasziniert von den Möglichkeiten und nutzen sie gerne. Dabei vergessen wir leicht, dass es viele Menschen gibt, die anders sind. Sie nutzen neue Techniken, wenn sie bequemer oder preiswerter sind als die althergebrachten. Doch sie beschäftigen sich nicht einfach deshalb damit, weil sie neu sind. Sie sind vielmehr froh, wenn sie sich wieder Anderem zuwenden können. Nicht etwa, weil sie nicht mit der Technik umgehen könnten, sondern weil sie andere Interessen haben.

Unterschiede bei der Erfahrung

Ein Arzt, der in der Klinik arbeitet, sitzt oft nur wenige Minuten in der Woche am Computer. Ein Facharbeiter benutzt in der Firma möglicherweise überhaupt keinen PC. Der einzige Computer, den der Küchenchef eines Gourmetlokals im Arbeitsalltag bedient, ist meist seine Kasse.

Unterschiede beim Fachwissen

Erwarten Sie nicht, dass ein durchschnittlicher Nutzer weiß, was RSS bedeutet, noch dass er es nutzen kann oder will. Erklären Sie stets alle Begriffe, die über Browser, E-Mail und Download hinausgehen. Dabei dürfen Sie aber keinem Benutzer das Gefühl geben, ihn nicht für voll zu nehmen. Die Erklärung muss immer so sein, dass sie denjenigen, der den Begriff kennt, weder beleidigt noch langweilt. Längere Ausführungen gehören deshalb in der Regel auf eigene Seiten.

Unterschiede bei der Technik

Wichtigster Faktor ist der Internetanschluss. Die Mehrheit der deutschen Internetnutzer surft über Modem oder ISDN. Dementsprechend müssen Ihre Webseiten auch über solche Verbindungen ausreichend schnell geladen werden. Anhänge sollten nie mehr als ein-, zweihundert KB haben.

Fazit: besuchen Sie Ihre Zielgruppe

Jedes Mal wenn Sie ein größeres Projekt starten, das sich an ein weniger technikgewöhntes Publikum richtet, springen Sie über die digitale Kluft. Besuchen Sie Ihre Zielgruppe, um zumindest für kurze Zeit zu denken wie sie, um ihre Erfahrungen nachzuvollziehen.
Lesen Sie die Zeitschriften und Zeitungen, die sie liest. Sehen Sie Fernsehsendungen, die sie sieht. Hören Sie die Radiosender, die sie hört. Surfen Sie mit einem analogen Modem auf den Seiten, die ihre Zielgruppe besucht.
Das ist eine gute Möglichkeit, sich so weit wie möglich einzustellen auf Ihre zukünftigen Nutzer. Während der Planung und der Umsetzung sollten Sie umso öfter echte potenzielle Nutzer aus Ihrer Zielgruppe zu Usability-Tests einladen, je fremder Ihnen die Zielgruppe ist. Hierbei gewinnen Sie die wertvollsten Informationen, weil Sie sehen, wie sich die Menschen, für die Sie gerade arbeiten, tatsächlich verhalten.
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(c) Jens Jacobsen 2006

Bei Weiterleitung oder Zitat bitte Quellenangabe („Quelle:
benutzerfreun.de-Newsletter April 2006“).

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