Wenn wir richtig gute Anwendungen gestalten wollen, müssen wir die Menschen in den Mittelpunkt stellen. Dazu brauchen wir vor allem eins: Empathie. So die übliche Darstellung. Ich glaube aber, die Empathie hilft uns wenig.
Empathie ist ein Modewort aus Business-Ratgebern. Alle brauchen sie heutzutage, um gut zu sein: Führungskräfte, Lehrende, Politikerinnen und Politiker. Und, natürlich, UX-Profis. Aber stimmt das überhaupt? Und, was ist diese Empathie überhaupt?
43 Definitionen für ein vermeintlich einfaches Konzept
Die Wikipedia weiß:
Empathie bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, die Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale eines anderen Lebewesens zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden. Ein damit korrespondierender allgemeinsprachlicher Begriff ist Einfühlungsvermögen.
Als Quellenangabe sind zwei Fachlexika zu Psychologie/Neurowissenschaft zitiert. Kurz darauf verweist der Wikipedia-Artikel dann aber auf eine Forschungsarbeit, die in der Fachliteratur 43 (!) verschiedene Definitionen des Begriffs „Empathie“ gefunden hat.
Das zeigt zumindest: Der Begriff ist nicht so leicht zu fassen, wie man meint. Es gibt unzählige Auslegungen und Abstufungen.
Interessant für unseren Bereich ist die Trennung der Empathie in verschiedene Aspekte, z.B.:
- Kognitive Empathie (Perspektivübernahme, Mentalisieren): Zustände anderer korrekt erschließen
- Affektive Empathie (Mitleiden): Miterleben fremder Gefühle (z. B. Schmerz-Empathie).
- Compassion/Mitgefühl als prosoziale Motivation ohne Überforderung: wohlwollende, helfende Motivation gegenüber Leid
Kognitive Empathie ist nützlich, wenn wir Bedürfnisse/Modelle ableiten (User Research, Hypothesenbildung).
Affektive Empathie hilft beim Rapport, also beim Aufbau einer vertrauensvollen Verbindung. Sie kann aber verzerren/überlasten.
Compassion als Mitgefühl (weniger als Mitleid) zielt auf ein Verständnis und ein wohlwollendes, vielfach sogar aktives Kümmern oder Versorgen von anderen.
Empathie im UX Research
Das Hasso-Plattner-Institut (HPI) und IDEO sind wichtige Institutionen, welche die Methode Design Thinking mit populär gemacht haben. Dabei geht es darum, gute und neue Lösungen zu entwickeln. Die Einbindung von zukünftigen oder bestehenden Nutzenden spielt dabei eine tragende Rolle. Interessanterweise taucht bei beiden Institutionen „Empathie“ als Phase des Design Thinking zunächst nicht auf – auch wenn sonst oft gerade im Englischen häufig von der Phase „Empathise“ die Rede ist.
Beim HPI etwa heißt die erste Phase dagegen: „Verstehen“, die nächste „Beobachten“. Zunächst müssen wir also die Ausgangsfrage definieren, wir müssen verstehen, was wir überhaupt entwickeln wollen. Dann müssen wir in der nächsten Phase beobachten, wie Menschen mit dem Problem umgehen, das wir definiert haben. Natürlich müssen wir uns dazu auch in die hineinversetzen. Aber: Ist das Empathie?

Empathie als Möglichkeit, andere zu manipulieren
Brauche ich Empathie, um zu verstehen, wie Nutzendende ein Medienangebot verwenden, welche Vorlieben und Muster sie dabei entwickeln? Brauche ich Empathie, um dann eine Lösung zu entwickeln, die Nutzende dazu bringt, das Angebot länger zu nutzen, als sie es eigentlich wollen? Dass sie die Werbung im Angebot wahrnehmen?
Wenn ich meine zuvor gewonnenen Erkenntnisse über Menschen dafür einsetze, Ziele der Betreibenden zu verfolgen, die denen der Nutzenden zuwiderlaufen, bin ich dann emphatisch? Fühle ich in dem Fall mit den Nutzenden? Welche Art von Empathie brauche ich für was?
Kritik am Konzept ist nicht neu
Was ich erst gemerkt habe, als ich begonnen habe, diesen Empathie-kritischen Text zu schreiben: Es gibt zwei prominente Empathie-Kritiker: Der Psychologe Paul Bloom hat schon ein Buch zum Thema geschrieben: „Against Empathy: The Case for Rational Compassion“ (2016)
Und der bekannte Psychologe und Begründer des Begriffs UX, Don Norman, hat 2019 auch einen Artikel dazu verfasst: Why I Don’t Believe in Empathic Design

Ein Problem ist nach Norman zum einen: Wir haben Empathie mit einer einzigen Person, wir versuchen uns in diese einzufühlen. Es geht aber bei UX nie um eine einzige Person, sondern um sehr viele – sie alle sollen mit unserer Lösung am Ende zurechtkommen. Es hilft uns also wenig, uns in einzelne einzufühlen. Für mich noch nicht ganz überzeugend.
Normans zweiter Punkt: Es kann uns meist nicht gelingen, uns in andere hineinzuversetzen – die anderen wissen selbst bei vielem nicht, warum sie etwas tun und was sie genau fühlen. Das wüssten wir von uns selbst in den meisten Fällen nicht einmal. Daher plädiert Norman dafür, genau zu erforschen, welche Aufgaben Menschen lösen wollen und wie sie dabei vorgehen. Welche Probleme sie haben. Das leuchtet mir schon eher ein:
Wir sind hier bei einem der Kernpunkte der menschzentrierten Entwicklung. Es geht mehr ums Forschen als ums Fühlen. Wir müssen die Probleme der Menschen verstehen, nicht die Menschen selbst.
Letztlich könnte man als Kompromiss vielleicht sagen: Die kognitive Empathie ist durchaus etwas, was wir beim User Research brauchen können. Wir müssen verstehen, was die Menschen fühlen. Die affektive Empathie, das Mitfühlen, ist dagegen weniger wichtig. Das kann uns sogar im Weg stehen, denn Empathie ist weder universell noch unabhängig von unseren Vorurteilen:
Empathie haben wir vor allem mit Nahestehenden
Menschen haben um so mehr Mitgefühl, um so näher sie denjenigen stehen, deren Leid sie sehen. Wir haben mehr Mitgefühl mit Angehörigen als mit Fremden. Mehr mit Menschen in der Nachbarschaft als mit Menschen in anderen Ländern. Mehr mit Menschen als mit Tieren.
Auch ist Empathie keineswegs etwas Angeborenes. Ja sogar der erlernte Anteil ist geringer als wir meinen: Frauen wird oft nachgesagt, sie hätten mehr Empathie. Und das belegen manche wissenschaftliche Studien auch – wobei der Effekt weder besonders groß noch überall gleich ist.
Der Witz ist aber: erzählt man Studienteilnehmenden vorher, dass emphatische Menschen von anderen als attraktiver wahrgenommen werden, dann verschwinden die Geschlechtsunterschiede. Und, noch drastischer: Bekommen die Teilnehmenden der Studie Geld für richtig erkannte Emotionen anderer Menschen, steigert sich die Leistung bei allen deutlich – bei Männern und bei Frauen auf ein ähnlich hohes Niveau.
Neugier & Bescheidenheit: Die unterschätzten UX-Tugenden
Aus meiner Sicht brauchen wir im Bereich UX vor allem zwei andere Eigenschaften: Neugier und Bescheidenheit.
Neugier treibt uns an, echte Forschung zu betreiben. Nicht aus dem Gefühl heraus, bereits zu wissen, wie Menschen „ticken“, sondern aus dem echten Wunsch, es herauszufinden. Neugierige UX-Profis stellen bessere Fragen, beobachten genauer und ziehen weniger vorschnelle Schlüsse. Sie lassen sich überraschen von dem, was sie entdecken.
Bescheidenheit bedeutet anzuerkennen, dass wir uns irren können – und werden. Selbst nach über zwanzig Jahren in diesem Beruf kann ich mir nie sicher sein, dass meine Designs wirklich funktionieren. Ich weiß es nicht. Wir können immer nur vermuten, Hypothesen aufstellen. Basierend auf Erfahrung eine fundierte Annahme treffen.
Selbst die erfahrensten UX-Profis werden immer wieder überrascht. Die Lösung, von der Sie überzeugt waren – fällt im Test durch. Das Feature, das Sie für überflüssig hielten – die Nutzenden lieben es.
Fazit: Was wirklich zählt in der UX-Praxis
UX-Design braucht keine Empathie-Profis, sondern methodisch versierte Forschende mit der Bescheidenheit, die eigene Fehlbarkeit anzuerkennen, und der Neugier, tatsächliche Nutzerprobleme zu entdecken.
Wenn Sie Ihre UX-Praxis verbessern wollen:
Ersetzen Sie „Ich kann mich in Nutzer einfühlen“ durch „Ich bin neugierig, wie Nutzende tatsächlich handeln“ Statt zu behaupten „Ich weiß, was Nutzende brauchen“, sagen Sie, „Ich stelle Hypothesen auf, die ich testen werde“.
Wir sollten überraschenden Testergebnissen nicht mit Rechtfertigungen begegnen, sondern mit Neugier. Eine Bestätigung unserer Annahmen ist zwar fast immer bequem – aber langweilig. Spannend wird es, wenn etwas anders läuft als gedacht. Dann kommt es auf unsere Neugier an, auf unseren Forschungsgeist – Empathie ist dabei zweitrangig.
Wir brauchen systematisches Beobachten, offenes Fragen und kontinuierliches Lernen. Der Weg zu besserer UX führt nicht über Empathie, sondern vor allem über Neugier und Bescheidenheit.
Links zur weiteren Lektüre
What Is Empathy and Why Is It So Important in Design Thinking? | IxDF
Ein Beispiel von unzähligen – ein Artikel, der die Bedeutung von Empathie in Design und Konzeption unterstreicht
Gender Differences, Motivation, and Empathic Accuracy: When It Pays to Understand
Die Studie, bei der Geschlechtsunterschiede bei der Empathie verschwanden, wenn es Geld für die Teilnehmenden gab
Questioning empathy as care in human-computer interaction
Meinungsartikel warum Empathie beim User Research problematisch ist
Why I Don’t Believe in Empathic Design
Don Normans Beitrag zum Thema





Herzlichen Glückwunsch zu deinem Mut, die heilige Empathie in Frage zu stellen! Ich habe deine Argumentation mit Gewinn gelesen. Übrigens finde ich auch Don Normans ersten Einwand überzeugend: Das Konzept Empathie ist im UX-Umfeld wahrscheinlich zu stark auf Einzelpersonen ausgerichtet. Um das Verhalten einer größeren Gruppe von Menschen richtig einschätzen zu können, braucht man gerade einen gewissen Abstand. Es ist besser, nicht zu stark verwickelt zu sein. Sonst urteilt man zu sehr aus einer persönlichen Sicht heraus, eigentlich ähnlich, wie wenn man nach dem eigenen Geschmack urteilt.
Danke sehr, das freut mich. Dein Ausdruck „heilige Empathie“ ist stark!