Newsletter 01/2008 – Keine Seiten mehr im World Wide Web?

2007 hat die Berichterstattung über Web 2.0 vermutlich ihren Höhepunkt erreicht. Grundsätzlich hat sich beim Thema Web 2.0 seit dem benutzerfreun.de-Newsletter von vor zwei Jahren (Januar 2006) nichts Neues getan, dennoch wird uns der Begriff sicher auch 2008 treu begleiten.

In dieser Ausgabe nehme ich mir den schon lange proklamierten „Abschied von der Seitenmetapher“ vor. Der wird durch die Web 2.0-Technik Ajax stark erleichtert – und auch teilweise tatsächlich vollzogen. Zu den technischen Details gleich ein wenig mehr.

Die Bedeutung der Seitenmetapher

Metaphern helfen, neue Geräte leichter bedienbar zu machen, ihr Bedienkonzept für die Nutzer zu erklären. So drücken wir „Knöpfe“ auf unserem Computerbildschirm, obwohl wir doch eigentlich den Mausknopf drücken. Wir öffnen „Dokumente“ und „legen“ sie in „Ordnern“ ab. Gut funktionierende Metaphern setzen sich schnell durch und bleiben lange erhalten.

Die Metapher der „Seite“ ist die wohl wichtigste beim Prinzip des World Wide Web. Sie steht für ein HTML-Dokument, auf dem Text, Bilder, Audio und Video enthalten sein können. Und von Beginn an arbeitete jeder Browser so, dass er eine Seite immer vollständig lädt und sie dann im Speicher zur Verfügung steht, ohne dass eine weitere Internet-Verbindung notwendig ist.

In den meisten Fällen ist das noch heute so.

Im größeren Stil geändert hatte sich das aber vor allem mit Flash. Flash-Filme sind in HTML-Seiten eingebettet, aber sie können sich anders verhalten: denn sie können selbstständig oder bei Klicks des Nutzers Inhalte nachladen, ohne die Seite zu wechseln.

In der breiten Anwendung im Web brachte das einige Probleme mit sich. Glücklicherweise hat sich mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass reine Flash-Sites selten den erhofften Nutzen bringen. Zwar sind sie auf den ersten Blick visuell beeindruckender. Wenn sie aber dem Benutzer den Zugang erschweren, bringen sie nur Ärger. So wie ein perfekt aussehender Fernseher schön ist, wollen wir auch mit einem solchen Design-Schmuckstück vor allem beeindruckende Filme sehen. Auf das tolle Drumherum achten wir im besten Fall langfristig nicht mehr, im schlimmsten Fall ärgern wir uns, wenn das Ding nicht so funktioniert, wie wir es wünschen.

Einem anderen großen Problem von Flash begegnen wir nun bei Ajax-Anwendungen wieder: dem Verlust der Seiten-Metapher.

Ajax nutzt JavaScript, um in gewöhnlichen HTML-Seiten Inhalte nachzuladen, ohne eine neue HTML-Seite öffnen zu müssen. Das hat den großen Vorteil, dass schnell kleine Informations-Häppchen aktualisiert werden können. Zum Beispiel kann die Anzeige der verfügbaren Reiseverbindungen auf der Seite aktualisiert werden, wenn ich das Abreisedatum in einem Formular ändere.

Der große Nachteil von solchen Anwendungen ist, dass wir über die Jahre gelernt haben, dass alle Informationen im Web auf einzelnen Seiten stehen. So merkt man oft gar nicht, dass die Informationen auf einer Ajax-Seite im Hintergrund aktualisiert wurden – weil das typische Aufblitzen einer leeren Seite fehlt, den es immer beim Sprung zu einer anderen Seite gibt. Auch ist es schwer, mit Ajax aktualisierte Inhalte als Lesezeichen abzuspeichern oder einen Link zu den Inhalten zu verschicken.

Aber das alles sind Probleme, die sich mit Usability-Tests aufdecken lassen und die mit mehr oder weniger Aufwand behoben werden können. Allerdings trifft man derzeit noch auf sehr viele Sites, bei denen das nicht passiert ist.

Abschied von der Seitenmetapher?

Einen Abschied von der Seiten-Metapher wird es aber nicht geben auch wenn dieser schon seit Jahren ausgerufen wird. Sie funktioniert für den allergrößten Teil aller Inhalte immer noch hervorragend und hat so viele Vorteile, dass sie uns weit über die nächsten Jahre hinaus erhalten bleiben wird.

Mir als Nutzer ist es natürlich egal, wie die Inhalte zu mir kommen. Ich bin zum Beispiel auf der Suche nach Informationen oder nach Unterhaltung. Einzelne Seiten suche ich nur, wenn ich weiß, dass auf diesen das ist, für das ich mich gerade interessiere. Ich suche nach Inhalten, nicht nach Technik. Ich sehe auf das, was auf dem Bildschirm passiert, nicht auf die Technik darum herum.

Aber dennoch bin ich es gewöhnt, nach Seiten zu suchen. Und das erleichtert mir die Arbeit – und genau dazu sind Metaphern da.

Professoren und Gestalter in Werbeagenturen proklamieren aber regelmäßig und unbeirrt, dass diese Arbeitserleichterung hinfällig ist. Das wäre schön für sie, denn das bedeutete viele neue Forschungsaufträge und Kunden für sie. Alles Bisherige müsste über Bord geworfen werden, und man müsste lange tüfteln, bis man neue Hilfsmittel entwickelt hätte, die benutzerfreundlich und effizient sind.

Der Haken aber ist: Ohne die Nutzer geht es nicht. Und die mittlerweile über eine Milliarde Internetnutzer, die es auf der ganzen Welt gibt, haben sich an die bestehenden Arbeitsmittel gewöhnt und kommen prima damit klar.

Natürlich ist das Gute der Feind des Besseren. Aber da der Weg zum Besseren steinig ist, bevorzugen wir es, beim Guten zu bleiben, bis uns der Weg zum Besseren so bequem gemacht wird, dass wir ihn gerne gehen.

Abschied von der Tastatur?

Dazu noch ein artverwandtes Beispiel: Die Computertastatur stammt von der Schreibmaschine ab. Und die Anordnung der Tasten dort ist zwar ergonomisch nicht optimal, aber weltweit verbreitet. Sogar japanische, chinesische oder thailändische Zeichen kann man mit dieser Tastatur eingeben. Für die lateinischen Buchstaben gäbe es etliche bessere Eingabemöglichkeiten, für Sprachen, die auf Zeichen basieren, noch viel mehr.

Dennoch benutzt fast jeder Mensch auf der Welt die bekannte Tastatur mit der bekannten Tastenanordnung – mit geringen Anpassungen von Land zu Land. Man hat sich an dieses Gerät und seine Unzulänglichkeiten gewöhnt. Kaum ein Nutzer ist daher bereit, es gegen ein neues, an sich besseres Gerät einzutauschen.

Aber dennoch sind Alternativen nicht nur denkbar, sondern sie werden auch eingeführt und angenommen. Der Ziffernblock ist ein Beispiel. Für den Zweck, Zahlen einzugeben ist er viel besser geeignet als die klassische Schreibmaschinen-Tastatur. Auch die Maus ist ein Eingabegerät, das es in den Anfängen der Computerzeit noch nicht gab. Es hat sich zusammen mit den grafischen Benutzeroberflächen Macintosh OS und Windows schnell durchgesetzt, weil es die vorhandene Tastatur sehr gut ergänzt.

Seiten bleiben, Ergänzungen kommen

Und genauso gibt es viele sinnvolle Ergänzungen in der Benutzung des Web. Doch für Nachrichten, Nachschlagewerke, ja auch für den Zugang zu Audio- und Video-Inhalten wird die Seiten-Metapher sicherlich noch lange erhalten bleiben, eben weil sie sich dafür so gut eignet. Sie erleichtert den Zugang, die Orientierung und die Navigation auf jeder Site.
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(c) Jens Jacobsen 2008

Bei Weiterleitung oder Zitat bitte Quellenangabe („Quelle:
benutzerfreun.de-Newsletter Januar 2008“).

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