Sites diktieren statt programmieren? – Newsletter 5/2025

Software erstellen, indem man einer KI einfach kurz erklärt, was die Anwendung können soll? Das geht inzwischen, und es gibt natürlich einen Hype-Begriff dafür: Vibe Coding.

Screenshot Website Ionos: In Sekunden zur professionellen WordPress Website mit KI-Tools
Eine Website in Sekunden? Ja, aber dann hat man irgendeine Website, keine gute. Websitebaukasten-Anbieter wie KI-Tools versprechen gerne viel.

Was ist Vibe Coding genau?

Vibe Coding ist ein KI-basierter Ansatz, bei dem ich meine Wünsche und Anforderungen für eine zu erstellende Anwendung in natürlicher Sprache (Prompts) an die KI gebe. ChatGPT, Claude, Copilot oder spezialisierte Lösungen wie Vercel v0 wandeln meine Beschreibung in lauffähige Apps bzw. Websites um.

Ich überlasse mich also ganz dem Vibe, der Stimmung, dem Gefühl. Den Begriff hat Andrej Karpathy, einer der Gründer von OpenAI, erst im Februar 2025 geprägt. Vibe Coding beschreibt einen Paradigmenwechsel: Statt Code Zeile für Zeile selbst zu schreiben, überlasse ich als „Vibe Coder“ die Programmierung vollständig der KI, ohne auch nur einen Blick auf den Code. Das Versprechen ist: Jeder kann programmieren. Sie sagen einfach, was Sie erreichen möchten, und die KI setzt das in funktionierenden Code um. Die ultimative Wunscherfüllungsmaschine.

Vibe-Coding-Lovable-Website-Paper-Love.png
In Lovable bearbeite ich z.B. eine Website, indem ich der KI sage, was sie ändern soll. Für einfache Dinge wie Farbänderungen etwas mühsam.

Aber funktioniert das wirklich?

Ja und nein. Einerseits löst Vibe Coding sein Versprechen ein, indem oft tatsächlich etwas herauskommt, was insoweit funktioniert, dass die App startet und etwas tut. Oder dass ein Browser die Website anzeigt. Oft entsprechen die Lösungen den formulierten Anforderungen weitgehend.

Aber damit sind wir beim Knackpunkt: Sind die Anforderungen nicht gut, ist es auch das Ergebnis nicht.

Zweiteiliger Comic: Oben wirft eine Person Müll in eine KI und erhält einen Haufen Müll als Ergebnis. Unten gibt sie strukturierte Bausteine ein und erhält ein klares, brauchbares Resultat.
Die alte Informatik-Weisheit gilt auch fürs Vibe Coding: Garbage in, garbage out (Gebe ich Müll hinein, kommt Müll heraus).

Was dem Ergebnis praktisch immer fehlt, ist die Qualität, die durch systematisches UX-Design und iterative Entwicklung entsteht. Die Oberfläche mag sogar glänzen, doch bei näherem Hinsehen offenbaren sich fast immer konzeptionelle Schwächen und Usability-Probleme.

Wer nutzt Vibe Coding?

Das Spektrum der Anwendung ist breit: Von Ein-Personen-Unternehmen (Solopreneuren), die ein MVP („minimales brauchbares Produkt“) auf den Markt bringen wollen, über Design-Profis ohne Programmierkenntnisse bis hin zu erfahrenen Entwicklungsteams, die schnelle Ergebnisse möchten. Gerade für kleine Teams oder Start-ups mit begrenzten Ressourcen ist Vibe Coding ein verlockender Weg der Produktentwicklung.

Im UX-Design ist es ein Ansatz, um schneller funktionsfähige Prototypen zu bekommen und dadurch früher aussagekräftiges Feedback einholen zu können.

Welche Tools können das?

Mit Sprachmodellen wie ChatGPT oder vor allem Claude kann man erste Schritte gehen – gerade einfaches HTML und CSS beherrschen die ganz gut. Es gibt aber spezialisierte Werkzeuge, die sich fürs Vibe Coding eher anbieten – eine kleine Auswahl:

Vercel v0 erstellt auf Basis kurzer Texteingaben fertige Web-Komponenten und ganze Seiten. Es nutzt moderne Webtechnologien wie Next.js oder React und ist eher für technisch Versierte gedacht. Wer etwas Grundverständnis für Code mitbringt, kann damit schnell hochwertige Interfaces entwickeln.

Lovable richtet sich an UX-Profis ohne Programmierkenntnisse und erstellt einfache Landingpages und Business-Tools über Texteingaben. Die Bedienung ist einfach, und die Ergebnisse lassen sich direkt verwenden oder als Code exportieren. Geeignet vor allem für schnelle Prototypen oder erste Versionen einer Webanwendung.

Builder.io hat einen mittelmäßigen KI-Assistenten zum Erstellen von Websites. Das Ergebnis kann man aber in einer visuellen Oberfläche anpassen. Die Ergebnisse lassen sich in viele gängige Frameworks exportieren, was die spätere Übergabe an die Entwicklung vereinfacht. Nimmt auch Figma-Dateien entgegen.

Diese Speziallösungen gehen über das hinaus, was allgemeine KI-Assistenten leisten. Etwa, weil sie Best Practices berücksichtigen und auf Frameworks aufbauen (also auf vordefinierten Bausteinen, die es erlauben, wiederkehrende Elemente und Funktionen schneller und konsistenter umzusetzen). Vor allem aber, weil sie ihre Ergebnisse selbst nochmal prüfen und dafür sorgen, dass am Ende wirklich etwas Lauffähiges entsteht.

Die Frage bleibt: Sind diese Werkzeuge ein Durchbruch für die Produktentwicklung oder nur ein kurzlebiger Hype, der fundamentale UX-Prinzipien über Bord wirft?

Vibe Coding – Revolution oder alter Wein in neuen Schläuchen?

Sogenannte No-Code-Plattformen, wie etwa Websitebaukästen gibt es seit Jahren. Sie ermöglichen es Menschen ohne Programmierkenntnisse, Sites oder einfache Apps zu erstellen. Doch während wir in No-Code-Lösungen vorgefertigte Bausteine in einer visuellen Oberfläche zusammenklicken, geht Vibe Coding einen entscheidenden Schritt weiter: Bei No-Code arbeiten wir immer innerhalb eines vordefinierten Systems mit klaren Grenzen und Strukturen. Beim Vibe Coding hingegen beschreiben wir unsere Vision in natürlicher Sprache, und die KI interpretiert unsere Absichten. Das eröffnet theoretisch unbegrenzte Möglichkeiten – mit allen Chancen und Risiken.

Screenshot von wordpress.com mit KI-Fenster, in dem man die Website per Prompt ändern kann
Sites wie WordPress.com werben seit Jahren damit, dass mit ihnen alle ganz ohne Vorkenntnisse Websites erstellen können. Jetzt geht dies hier auch per Prompt. Das Ergebnis ist aber nicht mehr als ein erster Ausgangspunkt.

Was ist wirklich neu?

Die eigentliche Innovation des Vibe Codings liegt nicht in der Codegenerierung an sich – diese gibt es in verschiedenen Formen schon länger. Das Entscheidende ist die intuitive, natürlichsprachliche Schnittstelle zwischen menschlicher Absicht und technischer Umsetzung.

Zum ersten Mal können Sie Ihre Ideen äußern, ohne sie in eine (Programmier-)Sprache übersetzen zu müssen – oder sich auf jemand anderen zu verlassen, der oder die das für Sie macht. Diese Direktheit macht Vibe Coding zu einem potenziellen Wendepunkt in der Softwareentwicklung.

Schneller, weiter, höher – aber nicht besser?

Der Druck, immer schneller zu arbeiten, ist allgegenwärtig. Vibe Coding verspricht drastisch verkürzte Entwicklungszyklen. Doch die Fixierung auf Geschwindigkeit um jeden Preis führt zu einer problematischen Dynamik: Wenn Zeit zum alleinigen Maßstab wird, leidet zwangsläufig die Qualität. Lassen wir uns darauf ein, landen wir unweigerlich in einem Hamsterrad und rennen immer nur der Entwicklung hinterher.

Wenn das Erstellen von Anwendungen so einfach wird, entstehen zunehmend mehr und zunehmend ähnlichere Produkte. Welche setzen sich durch? Wohl kaum die, die möglichst schnell und billig umgesetzt wurden. Sondern die, die echte Bedürfnisse der Menschen befriedigen. Für den Erfolg brauchen wir also immer noch ein tiefes Verständnis der Nutzerbedürfnisse und durchdachtes Design.

Die reine Aktivität, Code zu generieren, Features umzusetzen, fühlt sich produktiv an – besonders, wenn es so schnell und mit wenig Mühe geht. Das kann eine gefährliche Illusion von Fortschritt erzeugen: Wir sprechen ein paar Befehle in die Maschine, und heraus kommt ein interaktives Produkt, das anscheinend genau das tut, was wir beschrieben haben – das fühlt sich einfach gut an. Dabei verlieren wir aus den Augen, was wirklich zählt: das Schaffen von Mehrwert für die Nutzenden. Bis wir den sehen, braucht es weitere Anstrengungen.

Gefahr für UX: Oberflächlichkeit statt Nutzen

Vibe Coding befeuert die Tendenz zur „CEO-zentrierten Entwicklung“ – die Vorlieben der Entscheidenden bestimmen, was entwickelt wird. Die Leichtigkeit, mit der KI-Tools Ideen in Prototypen verwandeln, kann diesen Effekt weiter verstärken. Es gibt niemanden mehr, der kritisch hinterfragt, ob eine Anwendung überhaupt sinnvoll ist, wie sie sich die Vorgesetzten vorstellen.

Erfolgreiche Produkte entstehen, wenn es eine Übereinstimmung zwischen den Eigenschaften und Funktionen und den Marktbedürfnissen gibt – man spricht vom
Product-Market Fit. Der entsteht nicht durch schnelle Entwicklung, sondern durch tiefes Verständnis des Marktes und systematische Validierung mit Nutzenden.

Testing und Research sind kein Luxus – sie sind grundlegende Bestandteile erfolgreicher Produktentwicklung. Sie reduzieren Risiken, sparen langfristig Ressourcen und erhöhen die Erfolgswahrscheinlichkeit enorm.

Die Effizienzgewinne, die Vibe Coding bieten kann, sollten wir also nutzen, um mehr Zeit für Testing und Research zu gewinnen – nicht um diese Phasen zu überspringen. Also um menschzentrierte Entwicklung zu betreiben, nicht CEO-zentrierte.

Was Vibe Coding kann: schnelles, nutzbares Prototyping

Sie kennen das Pareto-Prinzip: Mit 20 Prozent des Aufwands haben wir schon 80 Prozent des Ergebnisses. Vibe Coding verkörpert dieses Prinzip perfekt: Mit minimalem Aufwand entstehen funktionsfähige Prototypen, die einen Großteil der gewünschten Funktionalität abbilden.

Das heißt aber auch: Uns muss klar sein, dass wir mit dem ersten Prototyp, der beim Vibe Coding herauskommt, erst 20 Prozent der Arbeit getan haben.

Wollen wir etwas entwickeln, mit dem Menschen wirklich gut klarkommen und das besser funktioniert als die Lösungen der Konkurrenz, die aus in wenigen Tagen mit Vibe Coding umgesetzt wurden, dann haben wir noch einiges zu tun.

Vibe Coding ermöglicht uns funktionsfähige Prototypen, die:

  • Realistischere Nutzungstests erlauben
  • Technische Herausforderungen frühzeitig erkennen lassen
  • Die Kommunikation zwischen Teams und im Team erleichtern
  • Aussagekräftigeres Feedback liefern

Gerade für UX-Teams bietet Vibe Coding eine verlockende Perspektive: Die Zeit, die früher für die technische Umsetzung aufgewendet wurde, kann nun für User Research verwendet werden. Wir können mehr Prototypen testen und/oder Prototypen mit mehr Funktionen als bisher.

Screenshot UI Lovable mit einer Website, die erstellt wird
In Lovable bearbeite ich z.B. eine Website, indem ich der KI sage, was sie ändern soll. Für einfache Dinge wie Farbänderungen etwas mühsam.

Vibe Design: Inspiration oder Illusion?

Apple-Gründer Steve Jobs wird oft als Beispiel für intuitives Design angeführt. War Jobs ein Vibe Designer? Kaum. Was wie spontane Intuition wirkte, basierte tatsächlich auf jahrelanger Erfahrung und tiefem Verständnis dafür, wie Menschen Technologie nutzen – eine wichtige Unterscheidung, die oft übersehen wird. Wer Vibe Coding betreibt, muss die Nutzenden sehr, sehr gut kennen. Und muss sich sehr gründlich Gedanken darüber gemacht haben, wie er diesen mit seiner Anwendung das Leben leichter macht.

Ohne die Grundlage von Erfahrung und systematischer Analyse wird „vibing“ schnell zum Zusammenschustern. Was bei Design-Profis wie Intuition wirkt, ist das Ergebnis tausender Stunden Designpraxis, von Beobachtung der Nutzenden und Reflexion.

Die Lösung liegt nicht darin, Intuition vollständig abzulehnen, sondern sie in einen reflektierten Designprozess einzubetten. Intuition kann ein wertvolles Werkzeug sein – wenn sie kontinuierlich durch empirische Daten und Feedback der Nutzenden geprüft wird.

Neue Rolle: UX als Prompt-Engineering

In der Welt des Vibe Codings ergibt sich eine faszinierende neue Rolle fürs UX-Design: Prompt-Engineering. Die Kernkompetenzen erfahrener UX-Professionals prädestinieren sie für diese Aufgabe.

Ein effektiver Prompt erfordert genau die Fähigkeiten, die wir im UX-Design täglich einsetzen:

  • Das Verständnis der Bedürfnisse der Menschen
  • Die Fähigkeit, komplexe Anforderungen klar zu formulieren
  • Ein Bewusstsein für potenzielle Fallstricke
  • Die Bescheidenheit zu wissen, dass wir falsch liegen können

Für UX-Professionals bietet diese Entwicklung eine klare Handlungsaufforderung: Investieren Sie in Ihre Prompt-Engineering-Fähigkeiten. In einer Welt, in der KI zunehmend Code generiert, wird die Fähigkeit, KI effektiv zu steuern, zu einer Schlüsselkompetenz.

Fazit: Raus aus dem Hamsterrad – zurück zum Menschen

Vibe Coding verspricht Schnelligkeit, Automatisierung und kreative Freiheit. Doch genau diese Versprechen können trügen. UX-Design, das sich nur noch an Geschwindigkeit orientiert, verliert seine Stärke: den echten Mehrwert für Nutzende. Wer langfristig erfolgreich sein will, sollte nicht unbedingt schneller, sondern vor allem besser werden.

Stellen Sie sich bei jedem Projekt die entscheidenden Fragen:

  • Löse ich ein reales Problem oder baue ich nur etwas, weil es möglich ist?
  • Habe ich die Perspektive echter Nutzender ausreichend berücksichtigt?
  • Nutze ich die KI, um Substanz zu gewinnen – oder um Aufwand zu sparen?

Setzen Sie Vibe Coding bewusst ein – als Beschleuniger Ihrer Prototyping-Phase, nicht als Ersatz fürs Durchdenken Ihres Designs. Die Zukunft gehört nicht denen, die am schnellsten „viben“, sondern jenen, die KI-Tools gezielt einsetzen, um menschzentrierte Anwendungen zu entwickeln.

Schreibe einen Kommentar