Newsletter 07/2002 – Die Usability von Papier – und was Konzepter daraus lernen können

Wohl jeder kennt mindestens eine Firma, in der die neuen Technologien zwar eingesetzt, aber nicht verstanden werden. Ein Beispiel aus meinem Bekanntenkreis: Die Sekretärin liest alle E-Mails der Firma, druckt sie aus und legt sie den jeweiligen Mitarbeitern in ihr Postfach. Wohlgemerkt hat jeder Mitarbeiter einen an das lokale Netz angeschlossenen PC. Bizarr wird es, wenn ein E-Mail für einen Kollegen mit Büro im Nebenhaus ankommt. Dann faxt die Sekretärin das ausgedruckte Mail ins Nachbarhaus, wo es die dortige Kollegin liest und dem Empfänger auf den Schreibtisch legt. Für jeden, der beruflich mit neuen Technologien zu tun hat, ist es ein Leichtes, sich über solche Arbeitsabläufe lustig zu machen. Doch wenn Sie Ihre Inhalte an Menschen vermitteln wollen, begreifen Sie das besser als Gelegenheit, etwas zu lernen.

Denn Sie sind darauf angewiesen, dass die Menschen die Informationen aufnehmen, die Sie auf Ihre Website stellen. Das bestimmt den Erfolg Ihrer Site: nur wenn die Benutzer mit Ihrer Website zurechtkommen und sie wie vorgesehen nutzen, ist sie langfristig ein Erfolg.

Wir alle benutzen das, was funktioniert. Hinzu kommt die Gewohnheit, das zu benutzen, von dem wir schon wissen, dass es funktioniert. Es genügt nicht, eine bessere Website zu erstellen als die Konkurrenz. Sie müssen

  • die Existenz Ihrer Site bekannt machen

  • die Vorteile klar kommunizieren

  • die Bedienung an die Erwartungen der Benutzer anpassen

Denn wir sind nur bereit, etwas Bekanntes, Funktionierendes für etwas Neues aufzugeben, wenn das einfach ist und wir uns deutliche Vorteile davon versprechen. Aus reiner Neugierde machen das nur Wenige.

Zurück zum Einsatz von Papier: In einem sehr gut geschriebenen und interessanten Artikel beschreibt Gundolf Freyermuth (c´t 11/02, S. 214) die  Arbeitsweise eines Managers, der ihm im Zug gegenübersitzt. Der Autor macht sich lustig darüber, dass dieser einen Stapel Papier abarbeitet und seine Anmerkungen mit einem Stift darauf schreibt. Ihn erinnert das an „griechische Schäfer“, „andalusische Bergbauern“ oder „ölverschmierte Monteure in Werkstätten der Dritten Welt“. Damit verkennt Freyermuth meiner Meinung nach den bewährten Informationsträger Papier. Denn im Usability-Test haben die „toten Bäume“ (Freyermuths Bezeichnung für Papier) viele Vorteile:

  • sie sind einfach zu transportieren

  • sie sind leicht zu kopieren

  • sie sind billig und leicht zu ersetzen

  • sie haben keine Akku-Laufzeit und sind immer einsatzfähig

  • sie benötigen keine Lesegeräte und sind damit plattformunabhängig und absturzsicher

Denken Sie daran, gegen welche Konkurrenz Sie als Hersteller von Webseiten also immer mit antreten. Sie müssen mehr bieten, wenn Sie Erfolg haben wollen.

Vielleicht noch wichtiger noch sind folgende Vorteile des Papiers:

  • man kann direkt darauf Notizen machen, Teile hervorheben oder durchstreichen

  • man kann mehrere Blätter direkt nebeneinander legen und vergleichen – begrenzender Faktor sind nur Ablagefläche und die menschliche Blickweite

  • es hat eine hervorragende Auflösung und ist bei fast jeder Beleuchtung leicht zu lesen

Ein einzelnes Blatt Papier hat insgesamt eine deutlich höhere Usability als eine Webseite am Monitor. Der Traum vom „papierlosen Büro“ hat sich bis heute nicht erfüllt, bekanntermaßen ist der Papierverbrauch sogar deutlich angestiegen, seitdem in fast jedem Büro Computer und Drucker stehen. Für mich persönlich war E-Mail beispielsweise nur ein kleiner Schritt zur Senkung des Papierverbrauchs. Die wichtigste Entwicklung war die eines nicht flimmernden Monitors, auf dem der Text zweier DIN-A4-Seiten nebeneinander so Platz hat, dass man ihn bequem lesen kann. Erst mit diesem vermeintlichen Luxus eines Riesenmonitors kann ich zwei Texte direkt miteinander vergleichen, ohne umständlich zwischen Fenstern hin und her schalten zu müssen – das Ausdrucken einer Fassung entfällt.

So hat jeder seine persönlichen Punkte, die für ihn wichtig sind. Allgemein gilt: Jeder behält Verhaltensweisen bei, bis Alternativen zur Verfügung stehen, die für ihn einen deutlichen Vorteil bringen. Für Freyermuths Manager ist es effizienter, seine Korrekturen handschriftlich zu machen und seiner Sekretärin die Arbeit zu überlassen, diese in elektronische Form zu bringen. (Ob das auch für die Firma die effizientere Lösung ist, steht auf einem anderen Blatt. Aber aufgrund der Gehaltsunterschiede der beiden Beteiligten ist dieses Vorgehen vermutlich auch wirtschaftlich gesehen sinnvoll.)

Wenn Sie eine Website, eine Kioskanwendung oder eine CD-ROM/DVD planen oder überarbeiten,

  • beobachten Sie die potentiellen Nutzer genau

  • halten Sie ihre Gewohnheiten fest

  • analysieren Sie die Aufgaben, die sie erledigen

  • überlegen Sie, ob Sie überzeugende Alternativen dazu anbieten

  • prüfen Sie in Tests, ob diese auch verstanden und angenommen werden

Freyermuths Manager wird vermutlich erst auf elektronische Bearbeitung umsteigen, wenn es Monitore gibt, auf denen man unterwegs mit einem Stift handschriftliche Anmerkungen und Korrekturen machen kann, die automatisch in Text übersetzt werden.

Unterschätzen Sie nie die Macht der Gewohnheit. Und verschließen Sie die Augen nicht vor den Vorteilen althergebrachter Lösungen, nur weil Ihre neu und elegant ist.
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(c) Jens Jacobsen 2002

Bei Weiterleitung oder Zitat bitte Quellenangabe („Quelle:
benutzerfreun.de-Newsletter Juli 2002“).

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