Newsletter 02/2005 – Usability ist nicht alles

Wer schon die eine oder andere Ausgabe des Benutzerfreun.de-Newsletters gelesen hat weiß, wie wichtig hier das Thema Usability genommen wird. Diesmal aber gibt es ein Kontrastprogramm:

Die Usability sollten Sie ignorieren.

Jedenfalls in manchen Fällen. Diese werden wir uns in dieser Ausgabe vornehmen.

Benutzer wissen nicht, was sie wollen

Wir alle kennen das von uns selbst – auch wenn wir es ungern zugeben: Wir verhalten uns anders als wir uns darstellen. Nach einer Studie der US-Online-Marketingfirma Doubleclick ist durchschnittlich 62 Prozent unserer E-Mails Spam. 72 Prozent der befragten Benutzer gaben an, Spam sofort zu löschen. Insgesamt würden nur sieben Prozent der Spam-Mails geöffnet. Wie viele letztlich dazu führen, dass ein Produkt bzw. eine Dienstleistung gekauft wird, bleibt unklar.

Doch klar ist, dass es immer noch genug sein müssen. Denn sonst würden Firmen sich nicht in die Halbwelt des Spam-Marketing begeben. Zu glauben, nur naive Internet-Neulinge würden den Spammern auf den Leim gehen ist naiv. Sehr viele Benutzer sagen, Spam sei das, was sie am Internet am meisten stört – und doch kaufen sie hin und wieder etwas so beworbenes.

Die Wirkungen eines ähnlichen Phänomens sind täglich im Radio zu hören. Bei Befragungen geben die meisten Deutschen an, sie würden gern mehr deutsche Lieder im Radio hören. Doch Untersuchungen haben wiederholt gezeigt, dass die meisten das Programm wechseln, wenn „zu viele“ deutschsprachige Lieder gespielt werden – und das unabhängig davon, ob das Publikum Schlager, Pop, Independent oder Hip-Hop favorisiert. Das ist mit ein Grund, warum sich die Privatsender so entschieden gegen die Ende 2004 diskutierte Quote für deutsche Musik im Radio ausgesprochen haben.

Benutzer sagen nicht, was sie denken

Es gibt einige Dinge, die gibt niemand gern zu. Bei Befragungen auf der Straße werden Sie weniger Menschen finden, die angeben, dass sie regelmäßig Sex-Sites besuchen als bei anonymen Befragungen im Web. Und die tatsächlichen Besuchszahlen sind vermutlich noch deutlich höher.

Doch nicht nur bei so pikanten Themen sagen wir nicht die volle Wahrheit. Auch wenn es darum geht, wie viele Stunden wir täglich vor dem Fernseher verbringen oder darum, wer etwa „Big Brother“ sieht, werden Sie feststellen, dass sich Umfragewerte und gemessene Werte erheblich unterscheiden. Andererseits wird etwa die Häufigkeit, mit der man Sport treibt bei Umfragen gern etwas beschönigt. Das muss nicht immer bewusst passieren – wir alle neigen dazu, uns auch selbst etwas vorzumachen.

Was bedeutet das nun für die Usability von Websites? Es bedeutet vor allem, dass Sie Methoden stets kritisch sehen sollten, die direkt die Meinung der Benutzer erfragen. Rechnen Sie immer damit, dass die Aussagen nur die halbe Wahrheit sind.

Hören Sie auch auf Ihr eigenes Gefühl

Amazon gehört zu den erfolgreichsten Internet-Händlern der Welt. Sein Gründer Jeff Bezos hat vor einiger Zeit das „1-Click“-Bestellen erfunden, um Produkte mit einem Mausklick zu ordern. In mehreren Kundenbefragungen kam heraus, dass die Benutzer dieses System nicht wollten. Amazon hat es dennoch eingeführt, weil Bezos das Gefühl hatte, dass es angenommen würde. Und er hatte Recht. Es hat den Absatz auf der Site weiter gesteigert, inzwischen haben andere Sites das Prinzip unter anderem Namen übernommen.

Das zeigt, dass Sie sich nicht immer darauf verlassen sollten, was Ihnen Ihre Benutzer sagen. Doch wenn Sie etwas dennoch ändern oder eine Funktion einführen, die nicht nachgefragt wird, sollten Sie darauf achten, dass das Ergebnis benutzerfreundlich ist. Das heißt, lassen Sie es von Benutzern testen und beobachten Sie, ob sie damit zurecht kommen. Nur mit Usability-Tests finden Sie das heraus. Die richtige Mischung von Bauchgefühl und Usability-Methoden macht den Erfolg aus.

Benutzer wollen nicht die beste Lösung

Eine der wichtigsten Grundannahmen der Usability ist nicht immer richtig: die Lösung mit der höchsten Usability ist die, welche den größten Erfolg haben wird. Denn es spielen immer viele andere Faktoren mit. Dabei geht es nicht nur um das bessere Marketing, das coolere Markenimage oder die niedrigeren Preise, die dazu führen können, dass eine weniger benutzerfreundliche Lösung erfolgreicher ist.

Es geht vielmehr darum, dass in manchen Fällen Benutzer eine Anwendung lieben, gerade weil sie schwierig zu bedienen ist. Wer in einer größeren Firma noch mit dem alten Computersystem umgehen kann, hat oft seinen Kollegen etwas voraus. Sie stehen bewundernd daneben, wenn ein langjähriger Mitarbeiter kryptische Kommandos in eine Tastatur hackt, die an einem monochromen Bildschirm angeschlossen ist und die ebenso kryptischen Ergebnisse zu deuten weiß. Wird nun ein neues System eingeführt, das jeder bedienen kann, trifft man nicht selten auf Ablehnung solcher Veteranen.

Vergleichbar ist die Vorliebe von Programmierern für die Kommandozeile: damit lassen sich in der Tat manche Aktionen sehr schnell durchführen, schneller als es mit grafischen Oberflächen möglich ist. Aber nicht zu vernachlässigen ist, dass dieses Können eine Auszeichnung ist und man sich damit von anderen abheben kann. Ist die Hürde zum Erlernen eines Systems hoch, kann das dazu führen, dass, wer diese Hürde genommen hat, an dem System festhält. Dabei spielt das mit, was Psychologen „Kognitive Dissonanz“ nennen. Vereinfacht gesagt denken wir: „Was mich so viel Mühe gekostet hat, muss gut sein!“

Ein letzter wichtiger Punkt: den Benutzern gefällt mitunter die weniger gut benutzbare Lösung einfach besser. Andrew Swartz von der britischen Firma Serco Usability Services berichtet beispielsweise von einem Projekt, bei dem die Benutzer die unverständlichen Icons deutlich positiver bewerteten als die eindeutigen Text-Schaltflächen – obwohl ihnen klar war, dass sie schwieriger zu bedienen sind.

Es kann dennoch richtig sein, sich für die benutzerfreundlichere Variante zu entscheiden, weil die Benutzer im täglichen Umgang damit effizienter arbeiten. Diese Entscheidung kann aber auch dazu führen, dass die Benutzer das System nicht akzeptieren und ihre Effizienz im Umgang mit diesem daher deutlich geringer ist. Sie müssen in solchen Fällen abwägen, welche Lösung die größeren Vorteile bietet.

Betreiber wollen nicht die beste Lösung

Aber auch die Betreiber einer Website wollen nicht immer die beste Lösung. Einfachstes Beispiel: haben Sie einen Online-Shop, möchten Sie vermutlich lieber die teureren Produkte verkaufen. Daher kann es sinnvoll sein, diese bei Suchanfragen an erster Stelle zu platzieren. Dabei bewegen Sie sich aber auf dünnem Eis: Verärgern Sie einen Benutzer, wenn dieses Vorgehen allzu plump wirkt, oder sucht er ein bestimmtes Produkt, das er nicht finden kann, haben sie einen (potentiellen) Kunden weniger.

Ähnlich ist die Lage, wenn Sie möglichst viele Kundenanfragen über Ihre Website abwickeln wollen. Das ist billiger als ein großes Call-Center zu bezahlen. Deshalb sind Telefonnummern auf vielen großen Sites so schwer zu finden. Versuchen Sie einmal, die Telefonnummer von Amazon oder Microsoft auf deren Website herauszubekommen…

Aber es gibt auch Websites, die sich von ihrer Konkurrenz absetzen, indem sie als zusätzlichen Service ihre Telefonnummer groß herausstellen und teilweise sogar den kostenlosen Rückruf anbieten.

Wie so oft gilt also auch bei Usability: Sehen Sie sich die Fakten genau an, und entscheiden Sie dann, was in jedem speziellen Fall die Lösung ist, welche den größten Erfolg für das Projekt verspricht. Auch wenn das im Einzelfall die weniger benutzerfreundliche Lösung sein mag.

Aber natürlich kann der benutzerfreun.de-Newsletter Sie nicht ohne das Usability-Mantra entlassen: nur wenn Sie die Usability testen haben Sie die Fakten, die Sie für die richtige Entscheidung brauchen.

Links

http://www3.doubleclick.com/market/2004/10/dc/email.htm?c=0410_smr&id_lead=newsletter&id_source=newsletter_0410Informationen zur E-Mail Studie von Doubleclick

www.usabilitynews.com/news/article1415.aspArtikel von Andrew Swartz, in dem er beschreibt, dass schönere Systeme manchmal solchen, die leichter zu bedienen sind, vorgezogen werden

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(c) Jens Jacobsen 2005

Bei Weiterleitung oder Zitat bitte Quellenangabe („Quelle:
benutzerfreun.de-Newsletter Februar 2005“).

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