Neue UX-Normen – Newsletter 12/2020

Normen sind nichts, was begeistert, selbst UX-Normen nicht. Und doch können sie aus zwei Gründen sehr nützlich sein:

  1. Sie geben einen kompakten Überblick.
  2. Sie helfen überzeugen.

Beide Aufgaben erfüllt eine der wichtigsten Normen für UX jetzt besser: Die DIN EN ISO 9241-110 ist vor wenigen Wochen neu herausgekommen. Die wichtigste Änderung, für alle, die sie schon kennen: Die Individualisierbarkeit wurde endlich nach hinten an den richtigen Platz gerückt. Außerdem gibt es ein neues Interaktionsprinzip, user engagement.

Aber wozu das alles und was hat es mit diesen „Interaktionsprinzipen“ auf sich? Was nützt einem diese Norm zu Usability und UX in der Praxis? Ein paar Antworten:

DIN EN ISO 9241-110 – Ergonomie der Mensch-System-Interaktion – Teil 110: Interaktionsprinzipien

Diese aktualisierte Norm ist Teil der Normenreihe DIN EN ISO 9241. Diese Reihe legt unter anderem fest, wie Tastaturen, Monitore und Displays sowie das Arbeitsumfeld aussehen sollten. Auch gibt sie vor, welche Eigenschaften Anwendungen/Software/Websites haben sollten. Eine wichtige Grundlage für all das sind die sieben Interaktionsprinzipien. Diese hießen früher „Grundsätze der Dialoggestaltung“. Das sind die Eigenschaften, die alle guten Anwendungen erfüllen sollten (die Norm spricht vom „interaktiven Systemen“). Diese sieben Interaktionsprinzipien sind:

Aufgabenangemessenheit:

Das System unterstützt den Benutzer beim Erledigen seiner Aufgaben. Dabei stehen diese im Vordergrund und nicht die technischen Anforderungen/Abläufe des Systems.

Selbstbeschreibungsfähigkeit:

Das System ist so weit wie möglich nutzbar, ohne dass der Nutzer eingewiesen wird oder etwas nachsehen muss.

Erwartungskonformität:

Das Systems funktioniert für den Benutzer so, wie er es von anderen Anwendungen her kennt.

Erlernbarkeit:

Das System unterstützt den Nutzer, den Umgang mit ihm selbstständig zu lernen.

Steuerbarkeit:

Der Benutzer hat das System jederzeit im Griff und kann es an seine eigenen Vorlieben und Bedürfnisse anpassen.

Robustheit gegen Benutzungsfehler:

Das System hilft, Fehler zu vermeiden, es toleriert diese und hilft, sie zu beheben, falls dennoch welche auftreten.

Benutzerbindung (englisch: user engagement):

Das System stellt Funktionen und Informationen einladend und motivierend dar. Dadurch wird die dauerhafte Interaktion des Nutzers mit ihm gefördert. 

Was ist neu in der DIN EN ISO 9241-110?

DIN EN ISO 9241-110 Inhaltsverzeichnis
Das Inhaltsverzeichnis der DIN EN ISO 9241-110

Gegenüber der vorigen Ausgabe der Norm aus dem Jahr 2008 gibt es vor allem zwei wichtige Änderungen:

Das Prinzip der Steuerbarkeit enthält nun die Individualisierbarkeit, die in der vorigen Version der Norm ein eigenes Prinzip war. Individualisierbarkeit heißt konkret, dass die Nutzer z.B. Tastenkürzel für sich anlegen können, dass sie eigene „Abkürzungen“ ins System einbauen können, um sich wiederkehrende Aufgaben oder Funktionen zu vereinfachen, die sie häufig brauchen. Das ist alles gut und wichtig – aber nicht so wichtig wie die anderen Prinzipien. In allen Reviews und Nutzertests, die ich bisher gemacht habe, hat dieses Prinzip fast nie eine Rolle gespielt. Denn die anderen Prinzipien spielen (selbst bei Software, die man täglich nutzt) eine viel wichtigere Rolle. Deshalb finde ich persönlich es hervorragend, dass das Prinzip nun integriert wurde bei der Steuerbarkeit. Für mich fühlt es sich so an, als hätte es schon immer dorthin gehört.

Die zweite große Änderung ist das neu eingeführte Prinzip der Benutzerbindung

User-Engagement, Benutzerbindung oder Benutzer-Engagement

Das neue Interaktionsprinzip „user engagement“ heißt in der deutschen Norm „Benutzerbindung“. Und nicht etwa „Benutzer-Engagement“, wie es naheliegend wäre. Die Autoren der Norm meinen, wie sie im Vorwort erklären, dass „Engagement“ zwar positiv besetzt sei, aber dennoch keine treffende Übersetzung für „engagement“.

In der Norm heißt es:

Ein interaktives System mit Benutzerbindung ermutigt Benutzer, dieses länger und häufiger zu benutzen, Ressourcen dafür aufzuwenden (kognitiv, finanziell, personell usw.) und es anderen Systemen mit ähnlicher Funktionalität vorzuziehen.

Außerdem trage Benutzerbindung zu guter User Experience bei. Damit sind wir beim Kernpunkt dieses neuen Prinzips: Es bildet ab, dass die UX in den letzten Jahren immer wichtiger geworden ist. Eine Anwendung, die alle anderen Interaktionsprinzipien erfüllt, ist nicht zwingend „engagierend“ oder „bindend“. Der Nutzer muss das Gefühl haben, die Anwendung motiviert ihn, sie ist vertrauenswürdig und er ist einbezogen in dessen Benutzung. Die Norm wird in der Folge auch konkret und nennt etliche Beispiele, wie ein System diese Anforderungen erfüllen kann. Angeführt wird z.B. 

  • Eine App für eine automatische Türschließanlage informiert den Nutzer mit einem klaren Feedback, dass alle Türen verschlossen und das Haus gesichert ist.
  • Ein Online-Magazin sollte nicht nur leicht zu durchsuchen, gut leserlich und inhaltlich relevant sein. Die Inhalte sollten auch ästhetisch aufbereitet sein.
  • Ein Webshop erzählt im Über-uns Bereich die Geschichte der Gründung und stellt die Personen hinter dem Unternehmen vor.

Wie nutze ich die UX-Norm in der Praxis?

Die Norm ist nützlich, wenn Sie z.B. ein UX-Review einer Anwendung schreiben. Mit einem Blick in die Norm stellen Sie sicher, dass Sie keine relevanten Punkte vergessen. Auch ist es immer eine gute Idee, sich in der Norm über den Stand der Technik zu informieren. Den langwierigen Weg in eine Norm findet nur, was von internationalen Experten als wichtig und richtig angesehen wird.

Außerdem sind Normen immer eine sehr gute Argumentationshilfe. Wenn Sie Ihre Empfehlungen für die Verbesserung einer Anwendung oder Ihre konzeptionellen Entscheidungen verteidigen, hilft die Norm sehr. Sie können belegen, dass die Grundlage auf einem Interaktionsprinzip oder Erläuterungen in der Norm beruht. Je nach Zielgruppe bzw. Stakeholdern kann das Ihnen viele langwierige Diskussionen ersparen. 

Noch mehr UX-Normen: DIN EN ISO 9241-210: Menschzentrierte Gestaltung interaktiver Systeme

Wenn Sie nur noch eine einzige Norm zum Thema UX ansehen, dann sollte es die DIN EN ISO 9241-210 sein. Darin steht, welche Aktivitäten Sie unternehmen sollten, um gute Produkte zu entwickeln. Es geht um die „menschzentrierte Gestaltung interaktiver Systeme“. Also darum, wie Sie sicherstellen, dass Sie die Interaktionsprinzipien aus der DIN EN ISO 9241-110 in Ihrem Produkt wiederfinden.

Diese Norm ist auch frisch überarbeit, sie wurde 2019 angepasst. In ihr finden sich daher auch alle aktuellen Schwerpunkte zum Thema UX und mensch-/nutzerzentrierter Entwicklung. Sie enthält auch eine neunseitige Checkliste, um zu prüfen, ob Ihre Entwicklungsprozesse den Anforderungen der Norm genügen.

Links zu den UX-Normen

Die Normen gibt es nur im Beuth-Verlag und sie kosten jeweils über 100 Euro. Zusammenfassungen finden sich an verschiedenen Stellen im Web, aber dort gibt es meist noch nichts zu den aktuellen Versionen der zwei Normen.

https://www.beuth.de/de/norm/din-en-iso-9241-110/320862700

https://www.beuth.de/de/norm/din-en-iso-9241-210/313017070

Schreibe einen Kommentar