Newsletter 06/2006 – Nielsens Usability-Bibel überarbeitet

Man kann zu Jakob Nielsen und seinen oft plakativen Aussagen stehen wie man will – er ist zweifellos der bekannteste und einflussreichste Usability-Experte weltweit. Sein Buch „Designing Web Usability“, das 1999 erschien, hat das Web verändert.

Der Klassiker und die Neuauflage

Mitte Mai 2006 ist nun die überarbeitete Version des Klassikers erschienen – unter dem Titel „Prioritizing Web Usability“. Nielsen hat sich dafür mit seiner Kollegin Hoa Loranger zusammen getan. Das Buch hat das gleiche Format und die gleiche Aufmachung wie sein Vorgänger, aber nicht nur die Farben der Titelseite haben sich geändert. Die Struktur ist eine ganz andere, die Beispiele sind auf dem neuesten Stand und auch die Gewichtung der Usability-Probleme ist anders als noch 1999. Der Text scheint vollkommen neu geschrieben zu sein.

Was dagegen gleich geblieben ist, ist Nielsens Ansatz. Er stützt sich auf Daten aus Usability-Test und argumentiert davon ausgehend für alles, was einfach, leicht verständlich und effektiv ist. Für Design-Spielereien und technischen Firlefanz hat er keinerlei Verständnis und nimmt auch kein Blatt vor den Mund, wenn er Sites kritisiert, die solche Dinge einsetzen.

Grundlage: viele echte Beispiele

Die Beispiele von Websites, die Nielsen analysiert (und in vielen Usability-Tests untersucht hat), sind sehr breit ausgewählt. Es sind solche von großen Unternehmen (z.B. Nestlé, Burger King), von mittleren (z.B. Bank One, Pixar), von kleinen Unternehmen, von Webshops sowie von Websites, die Regierungsstellen bzw. Vereine bereitstellen. Damit ist für jeden Leser etwas dabei, bei dem er sich wiederfindet.
Lediglich die Beispiele aus der letzten Gruppe, die von öffentlichen Institutionen und Vereinen, sind für die Leser hierzulande nicht ganz so hilfreich, weil diese im deutschsprachigen Raum etwas anders aussehen. Doch die grundsätzlichen Regeln gelten für alle Sites, insofern ist das kein Schaden.

Ein Buch wie eine Website

Blättert man das Buch durch, ist der erste Eindruck: das bunt, richtig bunt. Und zwar nicht nur wegen der vielen Abbildungen von Websites, sondern auch weil die Kästen mit Zitaten aus dem Text, mit Hintergrundinfos sowie die Grafiken knallbunt sind. Das wirkt auf die Dauer ermüdend, wobei die Zitat-Kästen überflüssiger Schmuck sind, weil sie einfach nur willkürlich scheinende Sätze aus dem Text wiederholen. Das mag bei einem Buch mit wenig Farbe und wenig Zusatzinformationen in Kästen neben dem Haupttext auflockern, aber dieses Buch ist voll davon. So lenken sie bei der Lektüre eher ab.

Die Diagramme sind schön farbig, aber sehr schwer zu lesen. Tortendiagramme mit sieben verschiedenen Tortenstücken/Farben sind nicht besonders benutzerfreundlich – zumal die Tortenstücke nicht direkt beschriftet sind. Man muss sich die dazu gehörigen Kategorien aus der Legende daneben heraussuchen.

Noch stärker als die erste Fassung ist die zweite Auflage so aufgebaut, dass man die Kapitel gut einzeln lesen kann. Durch die unruhige Gestaltung, die vielen Kästen, die vielen Abbildungen und die langen Abbildungsbeschriftungen mit vielen wichtigen Informationen und das unruhige Layout möchte man auch gar nicht längere Stücke auf einmal lesen.

Das ist schade, denn der Text ist hoch interessant, gut geschrieben und an sich gut gegliedert. Auch wenn letzteres wegen der Gestaltung beim Lesen kaum sichtbar wird.

Das Buch lässt sich also benutzen wie eine Website: einen Blick auf das Inhaltsverzeichnis werfen, durchblättern, ein paar Bilder ansehen und den ein oder anderen Absatz lesen. Und immer mal wieder vorbeischauen.
Leider hat es etwas von einer weniger guten Website: die Orientierung fehlt. Aber immerhin kann man sich diese immer wieder im Inhaltsverzeichnis verschaffen.

Auch positiv ist, dass Nielsen der Versuchung widerstanden hat, mit seinen Informationen zu protzen. Das Buch ist genau so dick wie sein Vorgänger, obwohl Nielsen sicher genügen Material für den dreifachen Umfang gehabt hätte. Doch er hat ausgewählt, was ihm am wichtigsten schien, hat die Tipps und Informationen zusammengestellt, die Websites am effizientesten benutzerfreundlich machen.

Fazit

Der Inhalt des neuen Buchs von Nielsen ist hervorragend. Wer auch nur ein Kapitel liest und von den Empfehlungen darin nur ein Viertel umsetzt, wird seine Website deutlich verbessern. Leider ist die Gestaltung nicht ganz so geglückt, was den Spaß an der Lektüre mindert.

Für alle Usability-Profis ist das Buch dennoch Pflichtlektüre – auch wenn sie darin wenig Neues finden werden. Zum Nachschlagen und Untermauern von Aussagen ist das Buch bestens geeignet. Wer Argumente für Usability sucht und wer Zahlen haben will, wie viele Benutzer sich wie auf Websites verhalten, der ist hier gut bedient.

Für wen Usability aber nicht die Hauptbeschäftigung ist und wer von deren Nutzen nicht durch viele Beispiele, Diagramme und Zahlen überzeugt werden muss, der findet Bücher, die weniger umfangreich, angenehmer zu lesen und klarer strukturiert sind. Meine persönliche Empfehlung ist immer noch Steve Krugs Titel „Don’t make me think!“ (unter demselben Titel auch auf Deutsch erhältlich).

Links

www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/0321350316
Jakob Nielsen, Hoa Loranger: Prioritizing Web Usability. (Englische Ausgabe, Erscheinungstermin der deutschen unbekannt)
edit (5/2008): die deutsche Ausgabe: www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3827324483

www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3826608909
Steve Krug: Don’t make me think. (Deutsche Ausgabe)

www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/0789723107
Steve Krug: Don’t make me think. (Englische Ausgabe)
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(c) Jens Jacobsen 2006

Bei Weiterleitung oder Zitat bitte Quellenangabe („Quelle:
benutzerfreun.de-Newsletter Juni 2006“).

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