Fokusgruppen funktionieren nicht – Newsletter 3/2020

Ungezählte Methoden gibt es im Bereich Usability, UX und Konzeption. Um die wichtigsten vorzustellen, sind z.B. 569 Seiten nötig in der Methodensammlung in Buchform This is Service Design Doing.

Die Methode, über die am häufigsten gestritten wird, ist vermutlich die Fokusgruppe. Dabei sitzen ca. 4 bis 8 Nutzer/Kunden zusammen und sprechen mit einem Moderator und miteinander über ihre Erfahrungen oder ein Produkt – viel mehr ist nicht dabei. Im genannten Buch heißt es dazu:

Sie erkennen hier im Text vielleicht eine Voreingenommenheit gegenüber Fokusgruppen. Gerald Zaltman, emeritierter Professor der Harvard Business School sagt dazu: „Gegen Fokusgruppen sprechen Erkenntnisse aus mehreren Forschungsdisziplinen. Die Korrelation zwischen erklärten Absichten und tatsächlichem Verhalten ist meist niedrig oder negativ.“

Kurz: Wir Menschen tun nicht, was wir sagen, dass wir tun.

Foto Fokusgruppe
Fokusgruppen sind moderierte Diskussionen. Oft reden die Teilnehmer nur, manchmal zeigen sie auch, wie sie Geräte, Sites oder Apps nutzen.

Und doch führt das Buch die Methode auf. Warum? Vor allem wohl, weil es eine etablierte Methode ist, die besonders im Marketing bekannt und üblich ist. Wie sie funktioniert, ist leicht zu verstehen und es wirkt auch so, als sei sie leicht durchzuführen. Sie hat auch den Vorteil, dass wir dabei in direkten Kontakt mit echten Nutzern kommen.

Was haben viele UX-Experten also nur gegen diese Methode?

Fokusgruppen sind eine Milliarden-Geldverschwendung

Am besten trifft es David Allan Van Nostrand. Er schreibt in seinem Artikel Most of the $2 billion spent on focus groups last year was wasted:

  • Die meisten Fokusgruppen wurden nur durchgeführt, um Entscheidungen zu bestätigen, nicht, um neue Erkenntnisse zu gewinnen.
  • Manche werten die Ergebnisse aus Fokusgruppen quantitativ aus. Das heißt, sie leiten Metriken aus den Ergebnissen ab.
  • Gelegentlich werden Fokusgruppen durchgeführt, weil es sich gut und wichtig anfühlt, echten Nutzern/Kunden durch einen Einwegspiegel (oder via Kamera) zuzusehen.

Und der wichtigste Punkt fasst die ganze Problematik zusammen:

Fokusgruppen werden meist durchgeführt, um Antworten zu bekommen. Dabei ist ihr eigentlicher Zweck, Fragen zu generieren.

User Researcher werden vielleicht mit den Schultern zucken. Denn wer professionell Nutzerforschung betreibt, der wird in die oben beschrieben Fallen nicht tappen. Dessen Job ist es, herauszufinden, was die Nutzer wollen.

Wissen, was Nutzer wollen

Woher wissen wir, was Nutzer/Kunden/Menschen wollen? Diese zentrale Frage lässt sich leider nicht so einfach beantworten. Generell gibt es zwei typische Wege:

  1. Nachfragen
  2. Nachforschen

Weg 1 ist der nahe liegende: Wenn wir wissen möchten, was unsere Kunden wollen, dann fragen wir sie einfach!
Weg 2 scheint unnötig kompliziert: Wir sehen unseren Kunden zu und beobachten, was sie wirklich tun.

Fokusgruppen fallen in die Gruppe 1, wir fragen hier also einfach nach. Das ist zwar weniger aufwendig und schneller, es ist aber wesentlich schwerer, hier an korrekte Ergebnisse zu kommen. Denn unzählige Studien belegen, dass Menschen nicht tun, was sie sagen. Nicht nur in Fokusgruppen, sondern generell.

Mehr Mühe macht es, die Menschen zu beobachten. Dabei bekommt man aber Fakten, nicht nur Meinungen. Deshalb sind Usability-Tests die Königsdisziplin der Zunft.

Sind Fokusgruppen also Teufelszeug? Nein.

Foto aus Don't Make Me Think von Steve Krug
Steve Krug gruselt es in seinem überaus empfehlenswerten Buch „Don’t Make Me Think“, wenn jemand Fokusgruppen erwähnt.

Fokusgruppen sind super – richtig eingesetzt

Erfunden hat die Fokusgruppen der US-Marketingexperte Robert Merton in den 30–40er Jahren des letzen Jahrhunderts. Er selbst war unglücklich darüber, dass seine Methode so oft falsch eingesetzt wird. Er schrieb:

Fokusgruppen sollen lediglich die Ideen liefern, die weiter untersucht werden müssen.

Wenn wir diesen Grundsatz berücksichtigen, können wir durchaus sinnvoll mit Fokusgruppen arbeiten.

Typische Fokusgruppen-Fehler vermeiden

Entscheidend für den Erfolg einer Fokusgruppe ist der Moderator. Seine Aufgabe ist, die Teilnehmer zum Reden zu bringen, auch die schüchternen. Er muss die Diskussion lenken, ohne zu manipulieren.

Ein häufiges Problem ist Groupthink, also Gruppendenken. Was so viel heißt wie, dass sich alle in der Gruppe auf eine Meinung einigen – auch wenn sie allein zu ganz anderen Schlüssen oder Überzeugungen kommen würden. Das ist ein aus der sozialpsychologischen Forschung bekanntes Phänomen. Es lässt sich kaum vermeiden, selbst wenn sich alle Teilnehmer der Gruppe des Problems bewusst sind.

Aus diesem Grund sind folgende Tätigkeiten in Fokusgruppen weitgehend nutzlos (auch wenn sie häufig gemacht werden):

  • Entwürfe/Designs/Prototypen zeigen und darüber sprechen
  • Websites/Anwendungen gemeinsam beurteilen oder vergleichen

Bei so etwas bekommen wir nur ein paar Meinungen, die aber meist wenig zu tun haben mit dem, was die Menschen später tun. Noch dazu sind sie durch die gruppendynamischen Prozesse verzerrt – die Ergebnisse sind also weitgehend wertlos. Damit sind wir genau beim Kern dessen, weshalb Nutzerforscher Fokusgruppen oft ablehnen.

Gute Aktivitäten für Fokusgruppen

Was aber funktioniert in Fokusgruppen sind Gespräche über tatsächliches, vergangenes Verhalten. Wir können also die Teilnehmer darüber diskutieren lassen, wie sie bestimmte Aufgaben gelöst haben, welche Apps sie dafür genutzt haben, welche Websites sie besucht haben und wie sie typischerweise vorgehen.

Um gegenseitige Beeinflussung etwas abzuschwächen, hat es sich bewährt, wenn Sie also Moderator diese Diskussion nicht einfach starten und laufen lassen. Bitten Sie die Teilnehmer besser zunächst, ihre Antworten zunächst allein in Stichpunkten aufzuschreiben. Das kann in Form von Haftnotizen sein, die sie später an die Wand kleben. Oder in Form einer einfachen Karte – letztlich auch nur Stichpunkte, die aber mit Pfeilen in eine zeitliche Abfolge gebracht werden. Oder einfach nur als Aufzählungsliste auf einem Zettel.

Geben Sie den Teilnehmern ein paar Minuten Zeit dafür und lassen Sie sie dann die Ergebnisse der Reihe nach vorstellen. Damit hat jeder zumindest für sich, unbeeinflusst von den anderen, seine Notizen erstellt. Das verringert das Problem des Gruppendenkens.

Das Problem der sozialen Erwünschtheit bleibt aber bestehen, und das bekommen Sie aus Fokusgruppen auch kaum heraus: Wenn Menschen das Gefühl haben, ein bestimmtes Verhalten missbilligen andere, dann haben viele Hemmungen, dieses zuzugeben. Genauso wird gesellschaftlich positiv Gesehenes eher in den Vordergrund gestellt. So kommt es, dass die meisten Menschen sagen, sie würden gern Salat und Gemüse essen, dann am Buffet aber doch zu Burger und Pommes greifen.

Generell sollten Sie versuchen, in Fokusgruppen nicht nur herumzusitzen und zu reden. Lassen Sie die Teilnehmer besser aktiv werden. Denken Sie an:

  • Geheime Abstimmungen (um Beeinflussung zu vermeiden)
  • Abstimmung mit Klebepunkten (z.B. um kritische/interessante Teile einer Anwendung zu markieren, die sie als ausgedruckte Screenshots an die Wand gehängt haben)
  • Ideensammlungen auf Haftnotizen
  • Vorführungen mit anschließender Diskussion

Ein Beispiel für den letzten Punkt: Sie wollen wissen, wie Menschen vorgehen, wenn sie ein Hotel buchen. Sie lassen also eine Person vorführen (z.B. via Laptop und Beamer), wie sie das macht. Die anderen Teilnehmer bitten Sie, ihre Beobachtungen und Anmerkungen auf Klebezettel zu schreiben, eine Beobachtung pro Zettel. Diese besprechen und sammeln Sie danach gemeinsam – ganz wie bei der gemeinsamen Beobachtung eines Usability-Tests.

Noch ein Wort zur Vorsicht bei den Abstimmungen: Machen Sie nicht den Fehler, am Ende zu berichten, dass „X Prozent der Nutzer die neue Idee gut finden“ o.Ä. Es geht nur um ein Stimmungsbild. Zum Bestätigen oder Aussortieren von Prototypen, Entwürfen etc. oder gar zum Erheben von Metriken sind Fokusgruppen nicht geeignet.

Am Ende werden aber ein paar Ideen herausgekommen sein, wo es sich lohnt, weiter zu forschen. Das ist das Wichtigste, was Sie zu Fokusgruppen mitnehmen sollten: Sie liefern Fragen, keine Antworten.

Fazit

Es gilt wie immer: Man sollte seine Methode und ihre Stärken und Schwächen kennen, dann kann man sie nutzen. Mein persönlicher Favorit sind Fokusgruppen nicht, ich finde eine Mischung aus Einzelinterviews und teilnehmender Beobachtung oder Usability-Tests meist besser.
Aber wenn ein Kunde darauf besteht, mache ich Fokusgruppen – und kann daraus immer auch wertvolle Erkenntnisse gewinnen.

Was ist Ihre Erfahrung? Ich freue mich über Kommentare im Blog.

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