Schrift – Nebensache oder Glaubenssache?

70 Prozent aller deutschen Haushalte bekommen jedes Jahr den Ikea-Katalog – die Auflage liegt bei knapp 30 Millionen in Deutschland, weltweit sind es fast 200 Millionen Exemplare. Nun haben sich die Gestalter dieses extrem weit verbreiteten Druckerzeugnisses den gleichen Zwängen unterworfen, denen Webdesigner unterliegen – freiwillig.

Der neue Ikea-Katalog für 2010 hat die bisherige Ikea-Schriftart ersetzt durch – Verdana. Richtig, das ist die Schrift, in der die meisten Websites gehalten sind. Im Web wird sie so oft verwendet, weil sie auf praktisch jedem Rechner der Welt installiert ist. Matthew Carter hat Verdana 1993 für Microsoft entwickelt, also als Schrift, die für den Bildschirm gedacht ist. Sie läuft breit, hat weite Abstände und war so auch auf den Röhrenmonitoren Ende des 20. Jahrhunderts gut zu lesen, selbst bei kleinen Schriftgrößen.

Massenware ersetzt Edel-Font

Ikea hat seit den 1950ern eine leicht abgewandelte Form der Schriftart Futura genutzt („Ikea sans“) – bis 2009. Nun hat das Möbelhaus zu Verdana gewechselt. Ein Aufschrei ging durch die Design- und Typografie-Szene. Der Einsatz von Verdana für Gedrucktes sei „schrecklich“, „hässlich“, „mit Worten nicht zu beschreiben“. Schnell wurde eine Online-Petition gestartet, die Ikea zurück auf den typografischen Pfad der Tugend bringen soll.

Der Grund für den Wechsel sind angeblich die Kosten, die sich mit Verdana einsparen lassen. Verdana ist international immer problemlos verfügbar. Mir persönlich leuchtet nicht ganz ein, warum die eigene Schrift so viele Kosten verursacht hat. Ich kenne zwar das Theater mit fehlenden Schriften, wenn man Dokumente zum Druck gibt. Aber in den letzten Jahren hat sich hier so viel getan, dass dieses Problem in der Praxis doch gut in den Griff zu bekommen ist. Den weiteren angegebenen Grund, man wolle bei Print die gleiche Schrift verwenden wie im Web, finde ich auch nicht besonders überzeugend. Für mich bleibt der Grund für den Wechsel unklar.

Der Ikea-Katalog 2010 ist ganz in Verdana gesetzt
Der Ikea-Katalog 2010 ist ganz in Verdana gesetzt

Welche Wirkung hat der Wechsel?

Und ich persönlich finde Verdana im Ikea-Katalog auch nicht schön. Aber ist es so eine Katastrophe, wie manche meinen? Simon Garfield schreibt im „Guardian“:

Eine neue Schriftart wird wahrscheinlich keine nachteiligen Auswirkungen auf den Umsatz haben.

Ja, die Verkäufe könnten sogar steigen, dadurch, dass Ikea jetzt mehr in der Presse ist. Und mindestens 29,9 Millionen der 30 Millionen Katalog-Leser werden es nicht einmal bemerken, dass der Katalog jetzt anders aussieht.

Gerry McGovern, den ich ja immer wieder gern empfehle, hat sich auch mit dem Thema beschäftigt. Er schreibt:

Es gibt viele Gründe, bei Ikea zu kaufen, aber ich bezweifle, dass die Schriftart, die Ikea verwendet, dazu gehört.

Damit und mit seinen weiteren Ausführungen schüttet der gute McGovern diesmal aber das Kind mit dem Bade aus. Denn zu einem Image gehört natürlich die Schriftart. Und das Image von Ikea ist durchaus ein Grund, weshalb Menschen bei Ikea kaufen.

Ob die Schriftart aber darauf einen so großen Einfluss hat? Ich glaube nicht. Wie gesagt, ich persönlich finde die alte Schrift viel schöner. Und ich interessiere mich für Typografie. Aber ich glaube, wir Profis neigen dazu, den Schriften viel zu viel Gewicht zu geben. Die wenigsten Auftraggeber können uns dabei folgen – und noch weniger Nutzer.

Hintergründe zur Schriftauswahl im Web

Dazu passt, dass wir dieselben Vorurteile über Jahre wiederholen. Ein Beispiel: Schrift ohne Serifen wie Verdana ist am Bildschirm besser lesbar als Schrift mit Serifen wie Times. Dass das nicht stimmt, hat Martin Liebig an der FH Gelsenkirchen kürzlich in einem Test mit über 3000 Teilnehmern gezeigt.

Es kam ganz klar heraus: Die immer wieder behaupteten Unterschiede der Lesbarkeit von Schriftarten gibt es nicht. Der Unterschied in der Lesegeschwindigkeit zwischen den untersuchten Schriftarten betrug maximal 3,9 Prozent.

Allerdings gibt es durchaus Unterschiede bei der Bewertung der Schriftarten. Fragt man die Benutzer, schneiden Schriften ohne Serifen tatsächlich deutlich besser ab als solche mit.

Diese hochinteressante Studie stelle ich in einem der nächsten Beiträge im Detail vor.

Links

Fakten rund um den Ikea-Katalog in der Pressemeldung
Welche Schriften haben die Nutzer? Gute Zusammenstellung bei Codestyle.org
Gute Übersicht mit Abbildungen aus dem Ikea-Katalog (englisch)
Der Artikel von Simon Garfield im Guardian (englisch)
Die Meinung von Gerry McGovern
Ausführliche Beschreibung der Studie zur Lesbarkeit von Schrift im Web

1 Gedanke zu „Schrift – Nebensache oder Glaubenssache?“

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