Newsletter 06/2010 – Das Gesamterlebnis des Benutzers zählt

„Ein guter Koch ist nicht damit zufrieden, dass seine Gerichte essbar sind, sie sollen köstlich sein.“ Das sagt der britische Konzepter Paul Boag. Was das mit Website-Konzeption zu tun hat? Eine ganze Menge. Denn fast jeder Sitebetreiber weiß mittlerweile, dass seine Website benutzerfreundlich sein muss, um erfolgreich zu sein. Aber das allein reicht nicht aus – und hier kommt die Analogie mit dem Koch wieder ins Spiel. Der amerikanische Kollege Fred Beecher sagt: „Früher war mein Job, dafür zu sorgen, dass die Dinge nicht nerven. Heute muss ich dafür sorgen, dass sie Spaß machen.“

Von Usability zu User Experience

Damit eine Website Spaß macht, muss sie mehr bieten als nur eine komfortable Bedienung. Teilweise können sich Benutzerfreundlichkeit und Spaß sogar widersprechen. So kann es komfortabler sein, eine Auswahl auf einer Einkaufs-Site aus einer übersichtlichen Liste zu treffen als die gleiche Menge an Punkten in Form von Bildern durchzusehen und auf die zu klicken, die man auswählen will. Doch wenn die Seite gut gemacht ist, wird das Einkaufen mit Bildern mehr Spaß machen, auch in dem Fall, dass sie keine zusätzliche Information liefern und die Seite unübersichtlicher machen.

Möchte ich zum Beispiel Speicherkarten für meine Digitalkamera kaufen, ist deren Aussehen vollkommen egal. Alle Informationen, die ich brauche, sind das Format der Speicherkarte, die Kapazität, die Geschwindigkeit, der Name des Herstellers und der Preis. Und doch macht es fast allen Nutzern mehr Spaß, auch das Bild der jeweiligen Karte zu sehen, wenn sie sich für eine entscheiden. Der einzige Unterschied ist der Aufkleber auf der Karte. Das ist nicht unbedingt rational, aber menschlich.

Um solche Dinge zu beschreiben, hat sich der Begriff „User Experience“ durchgesetzt, abgekürzt mit UX. Dieser hat den Begriff Usability mittlerweile in der Fachwelt fast vollständig verdrängt.

Usability hat mehr die Aufgabe im Blick, die der Nutzer lösen will. So kann ein System eine hohe Usability haben, weil der Benutzer die Aufgabe damit schnell und problemlos erledigen kann. Dennoch kann seine User Experience (UX) schlecht sein, wenn das Interface dem Benutzer nicht gefällt, oder er das System als umständlich empfindet – obwohl er weiß, wie er es bedienen muss.
Zwar schließt eine breitere Definition von Usability die Zufriedenheit des Benutzers mit ein, dennoch ist UX weiter gefasst und bezieht mehr subjektive Aspekte im Umgang des Nutzers mit dem System ein. So lassen sich die Anforderungen von Marketing und Grafikdesign mit denen der Usability verbinden. So verschiebt sich der Fokus von der Effizienz, mit der eine Aufgabe gelöst werden kann (Usability), hin zur Freude, die der Nutzer beim Umgang mit dem System hat – inklusive der Zeit vor und nach der Interaktion.

Für die User Experience einer Website spielt also viel mehr als die eigentliche Website eine Rolle:

  • Die bisherige Erfahrung des Nutzers mit dem Unternehmen, das die Site betreibt.
  • Das, was der Nutzer von Freunden oder in Medien über das Unternehmen gehört hat.
  • Die Situation, in der der Nutzer gerade ist (Büro/unterwegs/zu Hause, allein/in Gesellschaft, Stimmung….)
  • Das System, über die der Nutzer auf die Site zugreift (PC, Laptop, Handy, Apple/Windows/Linux…, Browser…)

User Experience geht über den bloßen Umgang mit der Site hinaus. Sie befasst sich auch mit den Erwartungen des Nutzers, der auf die Site kommt. Sie berücksichtigt etwa auch, was passiert, nachdem der Benutzer auf der Einkaufs-Site etwas bestellt hat.

Nehmen wir nochmal das Beispiel der Speicherkarte für meinen Fotoapparat: Bekomme ich eine Bestätigungs-Mail, die mir klar mitteilt, ob die Bestellung wie geplant geklappt hat? Erfahre ich, wann ich mit der Lieferung rechnen kann?

Dann geht es weiter mit der Lieferung: Klappt bei dieser alles? Und wie ist das Auspacken? Ich habe neulich von einem Webshop ein Päckchen in Form eines Rugby-Balls bekommen – es bestand im Wesentlichen aus blauer Luftpolsterfolie, umwickelt mit braunem Paketband. Darin war meine Bestellung sicher verpackt, und auch sonst war mit der Lieferung alles in Ordnung. Allerdings wirkte das auf mich extrem unprofessionell und meine Meinung von dem ansonsten guten Shop ist dadurch deutlich gesunken.

Aber die User Experience ist mit der Lieferung noch nicht zu Ende: Was passiert, wenn mit der Lieferung etwas nicht stimmt und ich Kontakt mit dem Unternehmen aufnehmen muss? Hänge ich am Telefon lange in einer Warteschleife? Sind die Mitarbeiter freundlich und kompetent? Können sie mein Problem schnell und zufriedenstellend lösen?
Und mit dem Produkt selbst muss ich natürlich letztendlich in jedem Fall zufrieden sein.

Produkte/Systeme sollen also nicht nur benutzbar sein, sondern auch

  • nützlich
  • erstrebens-/begehrenswert
  • wertvoll
  • auffindbar
  • zugänglich
  • glaubwürdig

Das sind die Eigenschaften, die der bekannte Informations-Architekt Peter Morville definiert (mehr dazu siehe am Ende unter „Links“).
Auch wenn der Nutzer im Mittelpunkt des UX Designs steht, ist er nicht der einzige, der eine wichtige Rolle spielt. Das Unternehmen auf der anderen Seite hat eine ebenso bedeutende Funktion. Der UX Designer muss zwischen den Geschäftszielen auf der einen und den Nutzerinteressen auf der anderen Seite vermitteln.

Vom Usability-Berater zum User Experience Designer

Wer im Bereich Usability arbeitet, der nennt sich mittlerweile nur noch selten „Usability Consultant“, sondern eher „User Experience Designer“. Dabei ist wichtig, dass man die englische Verwendung von „Design“ im Hinterkopf hat. Design umfasst nämlich deutlich mehr als im Deutschen üblicherweise, wo man bei Design meist nur an grafische Gestaltung denkt. Ein User Experience Designer ist dagegen aber jemand, der dafür sorgt, dass die gesamte Erfahrung der Nutzer mit der Website, dem Produkt, ja dem ganzen Unternehmen positiv ist.
Das kann ein Grafiker sein, meist aber ist es eher ein Konzepter oder ein Informations-Archtitekt – oder eben ein Usability-Berater.

Begriffsverwirrung

Der Begriff User Experience (UX) wird schon seit 1995 von Don Norman verwendet. Aber erst in den letzten Jahren hat er sich durchgesetzt für alles rund um erfolgreiche Anwendungen, die den Benutzer in den Mittelpunkt stellen, nicht die Technik.
Die grundlegenden Disziplinen sind schon viel älter. Seit wann es Ergonomie und „Human Factors Engineering“ gibt, darüber kann man streiten. Sicher ist aber, dass sie in den 1940er Jahren wichtig wurden, als man die Sicherheit von Flugzeugen verbessern wollte. Das Feld Human-Computer Interaction (HCI) kam mit den ersten Computern auf, Interface Design Mitte der 1980er, als sich Computer in Arbeitswelt und Freizeit immer stärker durchsetzten.

Gelegentlich hört man noch von „User-Centered Design“ (UCD). Dieses unterscheiden manche von User Experience Design – mir persönlich erscheint diese Unterscheidung etwas akademisch. Klar ist, dass sich derzeit Begriff User Experience Design durchsetzt.

Wichtig ist zu vermitteln, dass User Experience einen umfassenden Ansatz verfolgt und viele Disziplinen für sie wichtig sind – z. B. Usability, Informations-Architektur, Kognitionswissenschaft, Verkaufspsychologie, Marketing, Grafikdesign, Informatik und Texten.

Und wir müssen auch klarmachen, dass User Experience Design keine Dienstleistung ist, die man einfach dazubucht, so wie Usability nicht etwas ist, das man in seine Website „einbauen“ kann.

Wer nimmt User Experience Design in Anspruch?

Wer schon einmal für ein großes Unternehmen gearbeitet hat, kennt das Problem: Je hochrangiger die Entscheider, desto schwieriger ist es, Usability-Probleme zu diskutieren. Allerdings muss man gerade mit den Entscheidern diskutieren, wenn man den breiteren Ansatz der User Experience verfolgt. Denn ist man für die Usability zuständig, dann ist es kaum möglich, etwa die Produktentwicklung zu beeinflussen – die aber für die User Experience ganz entscheidend ist.

Nachdem die Bedeutung der Usability sich inzwischen herumgesprochen hat, müssen wir noch einige Überzeugungsarbeit leisten, um von dem umfassenderen Ansatz der User Experience zu überzeugen.

Links

Lesenswerter Artikel von Whitney Hess: 10 Most Common Misconceptions About User Experience Design
http://mashable.com/2009/01/09/user-experience-design/

Sehr inspirierender Artikel von Fred Beecher darüber, wie sich die Aufgaben der Usability geändert haben, am Beispiel des iPhone:
The iPhone is not easy to use: a new direction for UX Design

Peter Morvilles Artikel zum „UX honeycomb“:
http://semanticstudios.com/publications/semantics/000029.php

Mary Cagan schreibt in seinem „Letter to the design community“ von den Problemen, Entscheider von der Bedeutung der UX zu überzeugen:
www.svpg.com/an-open-letter-to-the-design-community/.

Die Sicht von Arne Kittler, der Websites für große Marken betreut – spricht mir aus der Seele:
http://arnekittler.wordpress.com/2010/05/30/upa2010-die-usability-branche-im-umbruch/

3 Gedanken zu „Newsletter 06/2010 – Das Gesamterlebnis des Benutzers zählt“

  1. Hmm, das macht nachdenklich.

    Für mich war der Begriff „User Experience“ bisher negativ belegt. Weil er nach Marketing klingt. Ein verschwurbelte Worthülse, hinter der sich Manager und Werbung verstecken können. Und zwar deshalb, weil er suggeriert, dass ich den Kunden länger auf meiner Website halten kann, wenn ich ihm etwas zum Spielen gebe.

    Genau das widerspricht allem, was ich bisher bei Steve Krug und Konsorten gelesen habe: Der Kunde will nicht zum Spielen angehalten werden, er will Infos. Kriegt er die nicht (und zwar schnell), ist er weg.

    Usability hat für mich wenigstens einen messbaren Charakter (bspw. kann ich rausfinden, ob der rote oder der grüne Button die Konversion erhöht).

    Aber vielleicht ist dem ja gar nicht so. Das werde ich mal genauer beobachten.

    Wieso Usability nicht Informationsarchitektur, Grafikdesign und Texten umfassen soll, ist mir im Übrigen nicht ganz klar.

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    • Ja, der Begriff klingt auch für mich etwas nach Marketing. Das muss aber nicht immer ein Schaden sein, denn gerade die Marketing-Leute müssen wir auch gewinnen, wenn wir wirklich gute Sites machen wollen, bei denen wir das Erlebnis des Benutzers in den Mittelpunkt stellen.
      Dabei geht es nicht darum, dem Nutzer Dinge aufzudrängen, die er nicht haben will, sondern darum, ihm Dinge anzubieten, die er gut findet. Es geht keinesfalls darum, ihn durch Spielereien länger auf der Site zu halten.
      Natürlich ist das Messen der User Experience nicht so einfach, wie das der Usability – wir haben es mit Menschen und deren Emotionen zu tun 😉

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