Newsletter 11/2004 – Usability im Entwicklungsprozess

Im vorigen Newsletter ging es um die verschiedenen Methoden zur Sicherung der Usability. Jede hat ihre Stärken und Schwächen und für jede gibt es Zeitpunkte im Projektablauf, zu denen sie am wirkungsvollsten eingesetzt wird.

Usability ist kein Punkt zum Abhaken

Usability ist inzwischen für die meisten Auftraggeber und Entscheider kein Fremdwort mehr. Aber viele glauben, wenn die Website so gut wie fertig ist, würden ein paar Tests gemacht und damit sei die Usability gesichert. Selbst in Agenturen ist die Fixierung auf Usability-Tests am Ende des Projekts weit verbreitet.

Doch je später man sich um die Usability kümmert, desto schlechter. Robert Pressmann bringt in seinem Buch „Software Engineering: A Practitioner’s Approach“ (6. Aufl. 2003) dieses Beispiel:

Wird ein Software-Problem in der Konzeptionsphase gefunden, kann es für einen Dollar behoben werden. Wird es nicht behoben, kann das in der Entwicklungsphase für 10 Dollar geschehen – oder nach Projektabschluss für 100 Dollar.

Bias & Mayhew zeigen das mit denselben Werten für Usability-Probleme in ihrem Buch „Cost-Justifying Usability“ (1994, 2. Aufl. für 2005 geplant).

Der Grund ist klar: Stellt sich etwa heraus, dass die Benutzer mit der Navigationsstruktur nicht zurecht kommen, ist deren Umstellung in der Konzeptionsphase schnell erledigt. In der Umsetzungsphase sind schon Seiten gestaltet und programmiert, die Änderung der Navigationsstruktur ist deutlich mehr Aufwand – oft sogar mehr als der erwähnte Faktor 10. Wird das Problem erst nach dem Launch erkannt, steht die gesamte Struktur fest, die Änderung bedeutet: In die Konzeptions- und Umsetzungsphase zurück, das Team neu zusammenstellen bzw. motivieren, alle technischen Tests wiederholen – der Aufwand ist nicht selten tatsächlich der 100fache.

Hinzu kommen ein eventueller Image-Schaden durch die benutzerunfreundliche Site, deren schnelle Überarbeitung und die verschwendeten Anstrengungen zum Bekannt machen der Site.

Usability im Prozess verankern

Am besten ist es, die Usability von Anfang an zu berücksichtigen und im Entwicklungsprozess zu verankern. Man spricht auch vom „User-Centered Design Process“ oder vom „Usability-Engineering“. Dabei wird bei jedem Schritt der künftige Benutzer in den Mittelpunkt gestellt.

So sieht es auch die Norm DIN EN ISO 13407 („Benutzerorientierte Gestaltung interaktiver Systeme“) vor. Sie fordert die aktive Beteiligung der zukünftigen Nutzer und ein iteratives Vorgehen. Das heißt, die Untersuchungsergebnisse fließen in den Prozess ein und führen zu einer verbesserten Lösung, die wieder untersucht wird.

Berücksichtigen Sie die Usability von Anfang an im Projektplan. Es muss klar sein, was wann für den Usability-Experten bereitgestellt werden muss (etwa Projektbeschreibungen, HTML-Prototypen). Ebenso muss Zeit reserviert werden für die Diskussion der Ergebnisse und vor allem auch für die Behebung der gefundenen Probleme.

Der Usability-Experte

In jedem Projekt sollte eine Person die Rolle des Usability-Experten spielen. Bei kleineren Projekten übernimmt das meist der Konzepter oder der Projektleiter. Doch ist es selbst bei Konzeptern mit viel Usability-Expertise besser, jemanden zu engagieren, der nicht so eng in das Projekt einbezogen ist – das vermeidet Interessenskonflikte und Betriebsblindheit. Denkbar ist, dass zwei Konzepter jeweils die Aufgabe des Usability-Experten im Projekt des Kollegen übernehmen. Optimal ist es aber, wenn ein Experte mit ausschließlich dieser Aufgabe für mehrere Projekte zur Verfügung steht. Langfristig wird bei großen Firmen von allein das Bedürfnis nach einem ganzen Usability-Team entstehen, wenn die Vorteile an erfolgreich abgeschlossenen Projekten sichtbar werden.

Der Usability-Experte ist Anwalt der Benutzer. Er vertritt ihre Interessen gegenüber Management, Marketing, Grafikern und Entwicklern. Dabei sollte er aber stets so argumentieren, dass allen klar ist, dass seine Arbeit nicht lästige Zusatzanforderungen hervorbringt, sondern wertvolle Hinweise, wie das Produkt zum Erfolg wird.

Anfangs empfinden Entwickler und Designer den Usability-Experten oft als jemanden, der mehr Arbeit macht. Er mischt sich ein und verlangt Änderungen. Wichtig ist, dass der Experte stets erklärt, was das Problem ist und weshalb Änderungen sinnvoll sind. Er muss immer auch Überzeugungsarbeit leisten und seine Kollegen für sein Arbeitsfeld sensibilisieren. So entwickelt sich eine gute Zusammenarbeit und das ganze Team merkt, dass die Berücksichtigung der Usability von Anfang an langfristig zu weniger Arbeit und erfolgreicheren Produkten führt.

Die richtige Methode zur richtigen Zeit

Bei der Auswahl sollte man immer im Hinterkopf haben, dass jede Methode nur bestimmte Ergebnisse liefern kann. Mehr zu den einzelnen Vor- und Nachteilen finden Sie im Newsletter 10/2004. Im Folgenden mögliche Einsatzfälle im Projektablauf:

Projektdefinition

In dieser Phase des Projekts kommen vor allem Feldbeobachtung und Befragung der zukünftigen Nutzer zum Einsatz.

In Fokusgruppen können Sie vertiefend die Erwartungen und Gefühle der potentiellen Benutzer diskutieren.

Auch Usability-Tests haben schon in dieser Phase ihren Platz. Testen Sie bestehende Anwendungen oder Sites, die überarbeitet werden sollen. Sehr nützlich ist auch der Test von Konkurrenzanwendungen. So lernen Sie von den Fehlern (und Stärken) anderer.

Mit diesen Methoden ermitteln Sie die Ansprüche der Benutzer, ohne auf Mutmaßungen angewiesen zu sein. Das ist die Basis für die Anforderungs-Analyse des Projekts.

Mit Benutzerprofilen (Personas) und Nutzungsszenarien machen Sie die Anforderungen für alle im Team greifbar und deren Erfüllung überprüfbar.

Konzeption

Kartenlegen hilft Ihnen bei der Strukturierung, der Planung der Informations-Architektur einer Site.

Mit Papierprototyp-Tests prüfen Sie mit wenig Aufwand, ob die Benutzer die geplante Struktur und/oder den geplanten Seitenaufbau verstehen.

Umsetzung

Usability Review, Heuristische Evalutaion oder Cognitive Walkthrough kommen während der gesamten Umsetzungs-Phase zum Einsatz. Das muss nicht immer ganz formell laufen, der Usability-Experte kann auch zwischendurch bei Fragen um Rat gebeten werden. Wichtig ist aber, dass einige Kontrollschritte von Beginn an eingeplant und auch tatsächlich durchgeführt werden.

Usability-Tests werden so früh wie möglich gemacht. Es ist besser, früh mehrere kleine Tests anzusetzen als spät einen großen. HTML-Prototyp-Tests sind früh in der Umsetzungsphase möglich – was das Beheben gefundener Probleme erleichtert. Jedes Mal, wenn eine Funktion oder ein Teilbereich der Site so weit fertig sind, dass man sie benutzen kann, sollten Sie diese einem Website-Usability-Test unterziehen.

Launch

Ist die Site einmal online, steht mit der Logfile-Analyse eine gute Methode zur Verfügung um zu sehen, welche Seiten die Benutzer aufrufen. Damit finden Sie Ansatzpunkte für weitere Nachforschungen.

Die in dieser Phase gefundenen Probleme sind auf aufwändigsten zu beheben – sie sind aber selten schwerwiegend, wenn die Usability von Anfang an bei der Entwicklung berücksichtigt wurde.

Fazit

Natürlich gibt es für alle genannten Methoden weitere sinnvolle Einsatzfälle und in allen Phasen können weitere Methoden in Frage kommen. Haben Sie etwas Erfahrung gewonnen, können Sie das selbst beurteilen. Um schneller voran zu kommen bietet es sich an, zumindest zeitweise einen externen Usability-Experten zu beauftragen, der Sie bei der Umstellung Ihres Entwicklungsprozesses unterstützt.

Für den Anfang empfiehlt es sich, mit den oben genannten Methoden zu beginnen, die sich mit dem geringsten Aufwand in Ihrem nächsten Projekt umsetzen lassen. Nach und nach können Sie dann weitere hinzunehmen. Denken Sie dabei daran: Je mehr Zeit sie zu Beginn eines Projekts in die Usability-Sicherung investieren, desto weniger müssen Sie gegen Ende investieren – und umso günstiger und schneller lassen sich die Probleme beheben.

Usability ist kein Kostenfaktor, der minimiert werden muss. Investitionen in Usability zahlen sich aus durch kürzere Entwicklungszeiten, bessere Wartbarkeit, zufriedenere Benutzer und damit letztlich größerem Umsatz bzw. Erfolg Ihrer Site.

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(c) Jens Jacobsen 2004

Bei Weiterleitung oder Zitat bitte Quellenangabe („Quelle:
benutzerfreun.de-Newsletter November 2004“).

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