Newsletter 02/2012 – Mehr ist mehr

Einfachheit ist ein Dogma des Designs. Nicht nur Stühle, Gebäude oder Geräte sollen einfach sein, sondern auch Software und Websites. Was einfach ist, ist leicht zu bedienen. Don Norman, nach Jakob Nielsen der bekannteste Usability-Experte, hat dazu schon 2007 einen provokanten Text geschrieben: Simplicity is overrated.

Einfachheit ist besser

Der Spruch „Weniger ist mehr“ wird gerne vielen verschiedenen Autoren zugeschrieben. Bekannt wurde er auf jeden Fall durch den Architekten Mies van der Rohe, der als Mitbegründer der Moderne in der Architektur gilt. Seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts haben viele Gestalter nach dieser Maxime versucht, durch Reduktion ästhetischere und besser benutzbare Dinge zu schaffen.

Einfachheit unterliegt

Norman beschreibt in seinem Text den Toaster eines deutschen Herstellers, den er Anfang des 21. Jahrhunderts in Korea entdeckt hat (vielleicht war es der KRUPS Digital KH 7004 Premium?). Dieser Toaster hat etliche Knöpfe, mehre LCD-Anzeigen mit kryptischen Icons, Graphen und Zahlenanzeigen. Ein Motor fährt das Brot hinein und heraus. Kostenpunkt: 250 Dollar (war wohl doch ein anderer, der verlinkte ist billiger). Früher hatten Toaster ein Rad, um den Röstgrad einzustellen und mit einem Hebel schob man das Brot hinein. Kostenpunkt: 20 Dollar.

Wir alle schimpfen über Produkte, die zu komplex sind. In vielen Tests – seien es solche von Geräten, Software oder Websites – heißt es, die Gestalter sollten einfachere Produkte herstellen.
Stellt jemand ein einfaches Produkt her, schimpfen alle über fehlende Funktionen. Das erste iPhone 2007 bot mehr als jedes Telefon zu seiner Zeit und machte die essenziellen Funktionen mobiler Computer erstmals leicht zugänglich. Und doch schimpften manche über fehlende Funktionen: Anwendungen von Drittanbietern, UMTS, Kopieren & Einfügen – alles Funktionen, die das Gerät heute hat. Es kann mehr, aber es wird auch immer komplexer und immer schwerer zu bedienen.

Warum verkauft sich komplex besser?

Die interessante Frage, die Norman stellt, ist: Warum kaufen wir Dinge, die mehr Funktionen haben, als wir brauchen? Viele Geräte haben sogar so viele Funktionen, dass wir Probleme haben, das Gerät zu bedienen. Stichwort: Bedienung eines DVD-/HD-Recorders oder mittlerweile auch eines Fernsehers.

Bild TV-Fernbedienung
Wissen Sie bei Ihrer Fernbedienung, wofür jede einzelne Taste gut ist?

Die Tatsache, dass das Handbuch auch nicht immer weiterhilft und manchmal mehr frustriert als nutzt, zeigt, dass der Hersteller zu diesem Zeitpunkt nicht mehr viel Interesse am Käufer hat – er hat ja schon gekauft. Wichtig sind die Funktionen zum Zeitpunkt der Kaufentscheidung.
Deshalb geht Norman so weit, zu schreiben:

Mach ein Produkt einfach, und niemand wird es kaufen.

Wenn wir die Wahl haben zwischen zwei sehr ähnlichen Produkten, dann kaufen wir das Produkt, das mehr Funktionen hat. Deshalb haben teurere Waschmaschinen mehr Knöpfe, Schalter und Anzeigen. Auch wenn sie eigentlich eine „intelligente Automatik“ haben, die uns die ganze Arbeit der richtigen Einstellung abnehmen könnte. Die Funktionen müssen sichtbar gemacht werden, sonst kaufen wir die teueren Produkte nicht.

Warum sind wir so?

Norman schreibt, er selbst ziehe einfache Produkte vor. Dennoch kann er nicht einfach einfache Produkte erstellen, die seinem persönlichem Geschmack entsprechen. Er muss Produkte erstellen, die sich verkaufen. Was Norman nicht fragt, ist, warum wir fast alle fast immer so sind, dass wir die Dinge mit den vielen Knöpfen kaufen. Dazu sehe ich zwei Erklärungsansätze:

  • den Sicherheits-Ansatz
  • den Status-Ansatz

Der Sicherheits-Ansatz geht davon aus, dass wir sichergehen wollen, nicht etwas zu kaufen, was eine Funktion nicht hat, die wir eventuell einmal brauchen könnten. Da die Dinge so komplex sind, dass wir sie nicht als Ganzes erfassen können, fühlen wir uns immer unsicher. Die Psychologie spricht hier von „loss aversion“ (etwa zu übersetzen mit Verlustangst).

Der Status-Ansatz geht davon aus, dass wir mit dem Kauf auch etwas signalisieren. Ein komplex aussehender Toaster signalisiert allen Besuchern am Frühstückstisch, dass man

  1. das Geld hat, sich einen teuren Toaster zu kaufen (denn jeder weißt, dass etwas komplex Aussehendes teurer ist).
  2. so schlau ist, dass man so ein komplexes Gerät bedienen kann.

Diesen Ansatz gebe ich Ihnen einmal zu Bedenken – mehr dazu in einem der nächsten Blogbeiträge, in dem ich Ihnen dazu ein Buch von Geoffrey Miller vorstellen werde, in dem es genau um solche Kaufentscheidungen geht.

Sollen wir also überladene Interfaces gestalten?

Norman hat für seinen Beitrag viel Kritik einstecken müssen. Vielfach beruhte die aber auf Missverständnissen. Norman meint nicht, dass wir deshalb überladene Interfaces erstellen sollen. Wenn wir etwas verkaufen wollen, dann müssen wir aber den potenziellen Käufern klar machen, dass unser Produkt viele, viele Funktionen hat. Das Ziel ist, dass das Produkt trotzdem benutzbar bleibt.

Ein-/Aus-Schalter
Es gibt Geräte, die kommen tatsächlich mit einem einzigen Schalter aus.

Das Ziel kann aber nicht sein, möglichst wenige Funktionen zu haben. Ein Gerät oder eine Anwendung mit nur einem einzigen Knopf wäre zwar sehr einfach zu bedienen, aber ihr Nutzen wäre trotzdem sehr begrenzt.
Was denken Sie? Ich freue mich auf Kommentare im Blog!

Links

Simplicity Is Highly Overrated
Don Normans Klassiker von 2007

How the Power of Free and Scarcity Influence Decision Making
Mehr zum Thema Loss Aversion (Verlustangst)

4 Gedanken zu „Newsletter 02/2012 – Mehr ist mehr“

  1. > Was denken Sie? Ich freue mich auf Kommentare im Blog!

    Als Benutzerin verzichte ich auf viele Features von Websites oder fühle mich durch sie sogar gestört. Von den Features dieser Website finde ich persönlich unnötig: die „empfehlen“ Links/Icons (wenn ich eine Website jemand empfehlen will, schreibe ich ein Mail oder verwenden einen Messenger) und die eingeblendeten Feeds von Twitter und Delicious (wenn ich Twitter lesen will, dann geh ich zu Twitter und nicht zu benutzerfreun.de)
    Aber benutzerfreun.de ist erfreulicherweise recht aufgeräumt und daher ein schlechtes Beispiel für unnötige und störende Features.

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    • Puh, da hatte ich beim Lesen kurzfristig die Angst, jetzt kriege ich gleich mein Fett ab. Aber zum Glück gehe ich als schlechtes Negativbeispiel durch 😉
      Inhaltlich gebe ich Ihnen Recht: gerade bei Websites sollte man sich so stark wie möglich beschränken. Denn anders als Geräte oder Software kauft die ja niemand, sondern jeder entscheidet jeweils im Augenblick des Besuchs, ob er die gebotenen Funktionen braucht oder nicht. Die Verlustangst durch zu wenig Funktionen spielt hier also kaum eine Rolle, denke ich.

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