Newsletter 01/2009 – Barrierefreies Web 2.0

Seit 2002 müssen die Websites deutscher Behörden barrierefrei („accessible“) sein. Das heißt, die Seiten müssen auch für Menschen mit Behinderungen zugänglich sein. Sich mit Barrierefreiheit zu beschäftigen lohnt sich aber auch für alle, die keine Behördensite betreiben. Denn zum einen sind Menschen mit Einschränkungen auch Teil fast jeder Zielgruppe. Eine Einschränkung kann zudem auch sein, mit einem mobilen Gerät auf die Website zuzugreifen.

Zum anderen sind barrierefreie Seiten fast immer leichter zu warten und laufen auf mehr Plattformen ohne Probleme als Seiten, die diese Anforderung nicht erfüllen. Macht man Seiten barrierefrei, sinkt deren Größe und damit Übertragungsgeschwindigkeit meist, und die Benutzerfreundlichkeit für alle Besucher steigt.

WCAG 2.0 veröffentlicht

Die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV) legt die Anforderungen für Behörden fest. Diese basiert auf den Richtlinien der Web Accessibility Initiative (WAI) des World Wide Web Consortiums (W3C), die 1999 erschienen sind. Der Name der Richtlinien ist „Web Content Accessibility Guidelines“, kurz WCAG. Die Version 1.0 von 1999 wurde nun endlich im Dezember 2008 von der neuen Version, WCAG 2.0, abgelöst.

Warum eine neue Version?

Seit 1999 hat sich im Internet viel getan. Die grundlegenden Anforderungen an die Barrierefreiheit haben sich zwar nicht geändert, aber die häufig eingesetzten Techniken. Und nachdem die WCAG 1.0 sehr stark ins technische Detail ging, waren die Anweisungen darin teilweise nicht mehr zeitgemäß (v. a. für AJAX-Anwendungen).

Um neue Richtlinien zu erlassen, die bindend sind („normative“ in der Sprache des WC3), braucht man viel Zeit und einen langen Atem. Nach festgelegten Prozeduren müssen hier Kompromisse gefunden werden, was oft sehr lange dauert – vergleichbar einem Gesetzgebungsverfahren. Aus diesem Dilemma hat sich die WAI nun befreit, indem sie zwei Dokumente erstellt hat: einmal die „normativen“ Regeln und zum anderen ein „informatives“ Technik-Dokument, das Empfehlungen zur Umsetzung gibt. Diese „informativen“ Hinweise lassen sich wesentlich schneller überarbeiten und können so neue Techniken beschreiben, ohne dass die zugrunde liegende WCAG geändert werden muss.

Daher sind die WCAG 2.0 technik-unabhängig formuliert. Anleitungen für HTML- oder CSS-Codierungen suchen Sie hier vergebens. Diese finden Sie in den zu den WCAG gehörenden „Techniques for WCAG 2.0“.

Generell sind die neuen Regeln eine Verbesserung. Allerdings sind die Regeln selbst immer noch nicht leicht verständlich – das liegt vor allem daran, dass diese Regeln Kompromisse sind, um die jahrelang gerungen wurde. Die Lesbarkeit bleibt da leider oft auf der Strecke. Aber die „informativen“ Dokumente erklären zum Glück, was gemeint ist.

Was leider auch auf der Strecke geblieben ist, soweit ich es sehe: die Vorgabe, dass Text einfach und nachvollziehbar geschrieben sein soll. Es gibt zwar eine Vorgabe „Text soll lesbar und verständlich sein“. Aber hier geht es den Ausführen nach darum, Abkürzungen und Fachwörter zu erklären oder zu komplizierten Texten leicht verständliche Zusammenfassungen bereitzustellen.

Das könnte daran liegen, dass eine Vorgabe für die WCAG 2.0 war, dass sie leicht überprüfbar sein sollen. Ob eine alternative Version da ist, kann man leicht prüfen. Ob dagegen der ursprüngliche Text verständlich ist, das ist schon mehr Aufwand. Schade.

Die vier Prinzipien der WCAG 2.0

Nach den WCAG 2.0 soll der Inhalt von Webseiten POUR sein, nach den Anfangsbuchstaben dieser vier Eigenschaften:

  1. Perceivable (wahrnehmbar)
  2. Operable (benutzbar)
  3. Understandable (verständlich)
  4. Robust (der Zugriff muss mit allen möglichen Geräten/Programmen möglich sein)

Die 12 Regeln der WCAG 2.0

Die vier Prinzipien werden durch insgesamt 12 Regeln für barrierefreie Sites konkretisiert:

1.1       Bilder, Videos etc. werden mit Text gekennzeichnet/erklärt.
1.2       Inhalte zeitbasierter Medien (wie Audio und Video) werden über Transskripte, Untertitel o. Ä. zugänglich gemacht.
1.3       Die Darstellung kann vom Nutzer angepasst werden bzw. über Hilfsgeräte zugänglich gemacht werden.
1.4       Der Kontrast ist so hoch, dass die Inhalte gut wahrgenommen werden.
2.1       Alle Funktionen sind nicht nur mit der Maus, sondern auch per Tastatur zu bedienen.
2.2       Der Nutzer hat genug Zeit, die Inhalte zu nutzen.
2.3       Alles, was Anfälle auslösen kann, wird vermieden (z. B. zu schnelles Blinken).
2.4       Die Navigation und die Suche werden unterstützt.
3.1       Der Text ist lesbar und verständlich .
3.2       Inhalt und Bedienung sind vorhersehbar (erwartungskonform).
3.3       Fehler werden vermieden; sie sind korrigierbar, wenn sie dennoch auftreten.
4.1       Die Seiten sind mit existierenden und zukünftigen Technologien kompatibel.

Umsetzung der Regeln

Bei der Umsetzung der Regeln hilft das Dokument „How to Meet WCAG 2.0“. Dies ist das Dokument, mit dem man als Praktiker wohl am meisten arbeiten wird. Darin stehen „Sufficient Techniques“ und „Failures“, also Techniken, die empfohlen werden und solche, die zum Verfehlen des Ziels führen.

Für jede der 12 Regeln stehen in diesem Dokument Erfolgskriterien („Success Criteria“). Diese sind nach den drei Stufen der Barrierefreiheit unterschieden. Die drei Stufen sind: A, AA und AAA. Je mehr A eine Site hat, desto weniger Barrieren hat sie. Anders als bei der WCAG 1.0 ist es nun mit gewissem Aufwand durchaus möglich, diese Stufe zu erreichen – nach WCAG 1.0 hat dies fast keine Site der Welt geschafft.

Was ändert sich für meine Site?

Wenn Sie Ihre Site nach den alten Richtlinien der WCAG 1.0 angelegt haben, dann müssen Sie in fast allen Fällen gar nichts ändern (Tipps dazu finden Sie im benutzerfreun.de-Newsletter vom Januar 2003).

Nur wenn Sie für Ihre Site angeben wollen, dass sie die WCAG 2.0 einhält, dann müssen Sie sich eingehend mit den neuen Richtlinien beschäftigen. Der Vorteil ist, dass diese sich viel leichter nachprüfen lassen als die Regeln der Vorversion.

Links

www.w3.org/WAI/WCAG20/quickref/
„How to Meet WCAG 2.0“ – das Dokument für Praktiker
www.w3.org/WAI/intro/wcag.php
Die Übersicht mit Hintergründen und Links zur eigentlichen Richtlinie sowie zu weiteren Erklärungen.
www.wob11.de/die-neuen-web-richtlinien-wcag-20showall.html
Sehr gute Zusammenfassung der Inhalte, auch wenn sie sich auf den Entwurf vom April 2006 bezieht und daher in Teilen nicht mehr aktuell ist (vom Aktionsbündnis für barrierefreie Informationstechnik)
http://alistapart.com/articles/tohellwithwcag2/
„To Hell with WCAG 2“ – scharfe Kritik von Joe Clark
http://learningtheworld.eu/2006/to-hell-with-joe-clark/
„To Hell with Joe Clark“ – hilfreiche Antwort auf Joe Clarks Kritik von Martin Kliehm
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(c) Jens Jacobsen 2009

Bei Weiterleitung oder Zitat bitte Quellenangabe („Quelle:
benutzerfreun.de-Newsletter Januar 2009“).

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Link- und Literaturtipps

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